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911 - Der Tag, die Angst, die Folgen

Titel: 911 - Der Tag, die Angst, die Folgen
Autoren: Bernd Greiner
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Ausnahmezustand auch in anderen Demokratien seinen Preis; aber einzig in den USA war von einer Verfassungskrise die Rede, gar von der schwersten Belastungsprobe seit dem Bürgerkrieg. Wie konnte es einer anfänglich schwachen, mit dem Makel einer gestohlenen Wahl behafteten Regierung gelingen, binnen kürzester Frist ihre Agenda auf ganzer Linie durchzusetzen? Warum funktionierten die «checks and balances» – Gewaltenteilung und wechselseitige Kontrolle des Machtapparates – nicht mehr? Wieso fügten sich mächtige Ministerien und Behörden, weshalb ließ der Kongress die Exekutive kritiklos gewähren? Weshalb galten scheinbar unverrückbare Prioritäten von einem Tag auf den anderennichts mehr? Und wie ist das jahrelange Schweigen des Supreme Court, der obersten Verfassungshüter, zu erklären? In den Worten von Seymour Hersh: «Ist unsere Demokratie wirklich so fragil?»[ 5 ]
    Historiker und Verfassungsrechtler verwenden seit den 1970er Jahren zur Charakterisierung dieser Fragilität ein einprägsames Schlagwort: «Imperiale Präsidentschaft». Das Adjektiv wurde vom Schöpfer des Begriffs, dem Historiker Arthur Schlesinger Jr., mit Bedacht gewählt und soll signalisieren, dass amerikanische Präsidenten seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederholt auf Vollmachten pochen, die einst den Potentaten europäischer Imperien vorbehalten waren. Eine Gleichstellung mit absoluten Monarchen ist damit selbstverständlich nicht gemeint; dagegen spricht der extrem enge Handlungsspielraum der Exekutive in der Innenpolitik im Allgemeinen und gegenüber den Einzelstaaten im Besonderen. Vielmehr geht es darum, dass Präsidenten in der Außen- und Sicherheitspolitik, bei der Entscheidung über Leben und Tod, die alleinige Entscheidungskompetenz für sich beanspruchen und ein um das andere Mal durchsetzen. Und dass sie dabei eine Theorie von «inherent rights» geltend machen, die einem vordemokratischen Politik- und Staatsverständnis geschuldet ist – der Vorstellung unteilbarer, nicht begründungsbedürftiger Privilegien nämlich, die vom ersten Mann im Staat nach eigenem Gutdünken in Anspruch genommen werden können. George W. Bush tritt nur insofern aus der Reihe, als er die Machtüberdehnung der Exekutive so konsequent wie kaum ein anderer vor ihm betrieb.
    Krieg zur symbolischen Beglaubigung imperialer Größe und Durchsetzungsfähigkeit, Angriffskriege auf bloßen Verdacht und zur Vorbeugung gegen künftige Gefahren, Setzung neuen Rechts ohne Verfahren, ohne Diskussion und ohne Legitimation – ob George W. Bush eine radikale Ausnahme bleibt oder ob die USA auf künftige Kränkungen, Niederlagen und Machteinbußen ähnlich radikal reagieren werden, ist eine offene Frage. Sich mit ihr zu beschäftigen, mithin nach den Möglichkeiten und Grenzen politischer Selbstkorrektur zu fragen, erscheint aber unhintergehbar –auch angesichts der seit «9/11» feststellbaren Beschädigungen des Rechtsstaats in Europa und nicht zuletzt auf Grund der Tatsache, dass der «Krieg gegen den Terror» die Wahrscheinlichkeit künftiger Anschläge nicht reduziert, sondern erhöht hat.
    Berlin, 13. Januar 2011

«Ground Zero»: Rauchende Trümmer des World Trade Center unmittelbar nach den Anschlägen.

Plakat eines unbekannten Künstlers, aufgenommen in Washington, D.C. im März 2006.

«Love the Bomb»: Graffiti des Künstlers «Cartrain» in London.

Imperiale Geste: George W. Bush in Fliegermontur nach der Landung auf der USS Lincoln am 1. Mai 2003, wo er eine verfrühte Siegesrede hielt – «Mission Accomplished».

Fiasko des Rechtsstaats: Eine griechische Weihnachtskarte spielt mit dem bekannten Bild aus dem Gefängnis Abu Ghraib.

Utopie automatischer Prävention: Eine unbemannte US-Drohne vom Typ «Predator» im Flug.

Bildnachweis

S. 16
© Steve McCurry/Magnum/Agentur Focus
S. 19
© SZ-photo/AP
S. 27
© STR New/Reuters
S. 29
© Greg Semendinger/AP
S. 35
© Ho New/Reuters
S. 46
Unbekannter Künstler, entnommen aus: Street Art and the War on Terror, Eleanor Mathieson (ed.), London 2007, 44
S. 50
© AP
S. 73
© ullstein bild/AP
S. 77
© ullstein bild/AP
S. 80
© Cartrain, entnommen aus: Street Art and the War on Terror, Eleanor Mathieson (ed.), London 2007, 72
S. 84
© James A. Parcell, entnommen aus: Bob Woodward, Bush at War, Stuttgart/München 2003
S. 87
© Reuters
S. 115
© DOLK, entnommen aus: Street Art and the War on Terror, Eleanor Mathieson (ed.), London 2007, 90
S. 118
© Reuters
S. 130
©
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