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34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

Titel: 34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
Autoren: Annika Reich
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Reiseführer und ein paar lose Zettel. Dass ihre Mutter hier gewesen war, stand außer Frage, aber wo war sie jetzt? Was hatten sie hier im Krankenhaus mit ihr gemacht? War Ella nur ein paar Stunden zu spät gekommen, nur ein paar Stunden?
    Ella drückte ihr Gesicht in das Kopfkissen, das nach ihrer Mutter roch, ganz unverwechselbar nach ihrer Mutter roch, so roch, wie nur ihre Mutter riechen konnte und schon immer gerochen hatte, und begann bitterlich zu weinen. Und mitten in dieses Weinen hinein begann sie dem Kopfkissen all das zu sagen, was sie ihrer Mutter nicht gesagt hatte: Dass sie sie liebte, dass sie sie nicht ertragen konnte, was für Schuldgefühle sie ihr gegenüber habe; dass sie bis heute nicht verstünde, warum sie ihre Schwester und sie immer gegeneinander ausgespielt habe; dass sie sie nicht einmal getröstet habe und dass sie selten einen falscheren Satz gehört hätte als den, dass Vögelchen keinen Trost brauchen, solange man sie nicht einsperrt; wie falsch dieser Gedanke gewesen wäre, wie grundlegend falsch.
    Schritte auf dem Gang, irgendwo ging eine Tür auf und zu. Stille.
    Ella hatte sich kurz aufgerichtet, jetzt flüsterte sie weiter in das inzwischen durchnässte Kopfkissen hinein: dass sie die Schmetterlingsspangen für ihre Nichten damals nehmen wollte, dass ihre Schwester da zu hart reagiert hätte; dass sie nie verstanden habe, warum sie ihr den Vater vorenthalten habe; ob ihr Vater »Dickie«, der Libanese vom kleinen Laden an der Ecke, oder doch ein anderer sei; dass sie wisse, dass sie sie damals im Krankenhaus besucht habe, als sie ihren Fahrradunfall gehabt hatte; dass sie sich neulich einen kleinen, pinken Vogelkäfig gekauft habe, weil sie sich an die Zeit mit den Blumen und den Vögeln gerne erinnerte, und dass sie nicht wisse, warum sie sich nicht von ihr verabschiedet habe, bevor sie mit Horowitz aufgebrochen sei; warum sie ihr nichts davon erzählt habe und warum sie jetzt einfach gegangen sei, ohne ihr die Möglichkeit zu geben, sich von ihr zu verabschieden.
    Da ging die Tür auf. Ella schreckte auf. Ihre Mutter kam ins Zimmer. Horowitz hinterher. Ihre Mutter sah vollkommen übernächtigt aus, trug eine Halskrause und eine Bandage um den Oberkörper, aber sie lief auf ihren eigenen Beinen und lebte.
    »Ella!«, rief sie. »Du bist schon da?«
    Ella richtete sich auf.
    Ihre Mutter lebte.
    Horowitz lebte.
    Ella lief zu ihrer Mutter.
    »Du weinst ja, mein Vögelchen, warum weinst du denn?«, fragte ihre Mutter, und ihr Blick war voller Sorge, fast mütterlich.
    »Ich dachte, du…«, sagte Ella schluchzend.
    »Dachtest du, dass ich tot bin?«, fragte ihre Mutter, ging zu dem Bett, legte sich ächzend auf den Rücken und bettete ihren Kopf auf das durchnässte Kopfkissen. »Das dachte ich auch«, sagte ihre Mutter.
    Horowitz legte Ella kurz die Hand auf die Schulter, nickte ihr müde zu und setzte sich auf den Stuhl, der in der einen Ecke stand.
    Ella fixierte immer noch weinend das Kopfkissen, auf dem nun der Kopf ihrer Mutter ruhte.
    »Ich hab nur ein paar gebrochene Rippen und ein heftiges Schleudertrauma, mehr nicht. Es ging ja alles so schnell. Ich kann mich gerade noch an das entgegenkommende Auto erinnern, an die gelben Lichter, sonst nichts mehr. Früher hab ich mir das ja manchmal gewünscht, dass es einfach so enden würde. Ein Knall und Licht aus.«
    Ella nahm ein Taschentuch.
    Ihre Mutter schaute sie aus dem Augenwinkel an, ohne ihren Kopf zu drehen: »Du trägst ja meine Schmetterlinge im Haar. Ich dachte immer, du und deine Schwester, ihr beide hasst meine Schmetterlinge.«
    Ella tastete mit der Hand nach dem Kamm in ihrem Haar.
    »Wir waren eifersüchtig auf deine Schmetterlinge, und wir haben sie nicht verstanden«, sagte Ella, »du hast sie uns nie erklärt.«
    »Wie meinst du das, ihr habt die Schmetterlinge nicht verstanden? Man hat nichts davon, sie zu verstehen. Sie sind Tiere der Verwandlung. Wenn man sie verstanden hat, bedeuten sie schon wieder etwas anderes. Das müsste dir doch eigentlich ganz vertraut sein, anders als deiner Schwester, die ja immer will, dass alles so bleibt, wie es ist.«
    »Lass es«, sagte Ella und konnte es kaum fassen, dass sie sich jetzt schon wieder über ihre Mutter ärgern musste, obwohl sie gerade noch gedacht hatte, sie wäre tot.
    »Nun ja«, sagte ihre Mutter in ihrem wohlbekannten Tonfall.
    Ihre Mutter schien ganz die Alte zu sein.
    Ella schaute nun auf das Kopfkissen, erleichtert, dass all das, was sie dem Kopfkissen
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