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34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

Titel: 34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
Autoren: Annika Reich
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zog sie noch einmal zu sich heran.
    Jasmin löste sich aus der Umarmung und fragte: »Warum musst du eigentlich immer zu spät kommen? Immer, jedes Mal… Ist das chronisch, oder ist das nur mit mir so?«
    »Wie spät ist es denn?«
    »Das meine ich«, sagte Jasmin, »genau das meine ich. Und wie siehst du eigentlich aus?«
    »Warum?« Ella schaute an sich herunter, sie hatte sich ein bisschen chic gemacht für die Fasanenstraße, einen engen schwarzen Pullover, einen schwarzen Rock und hohe Schuhe angezogen. Sie löste die Clips ihrer Ohrringe und steckte sie in die Tasche.
    »Gehst du noch ins Konzert?«
    »Nein, nein«, sagte Ella und setzte sich. »Heute war ein komischer Tag, das erzähle ich dir gleich alles.«
    »Ach«, sagte ihre Schwester und schlug die Speisekarte auf.
    Das Paar am Nebentisch hatte die Begrüßung beobachtet und drehte sich nun weg. Ella und ihre Schwester begrüßten sich immer so: Ella ließ ihre Schwester immer spüren, dass ihre Umarmungen knöchern waren, und Jasmin ließ Ella immer spüren, dass etwas mit ihr nicht stimmte.
    »Hast du eine neue Jeans?«, fragte Ella.
    »Ja, muss sie noch eintragen, zwickt noch ein bisschen. Gefällt sie dir?«
    »Schön«, sagte Ella und schwieg eine Weile, dann fuhr sie fort: »Und wie geht es dir sonst?«
    »Im Moment sind alle gesund«, sagte Jasmin.
    »Und dir?«
    »Mir?«
    Jasmin schaute Ella überrascht an, zog die Schultern hoch, lachte und bestellte einen Campari. Ihre Stimmung schien von einer Sekunde zur anderen umgeschlagen zu sein, denn plötzlich erzählte sie ganz vergnügt: »Ich hatte heute auch einen komischen Tag. Da kam ein Mann zur Behandlung, vielleicht vierzig, mit einer vollkommen verformten Wirbelsäule. Aber von vorne sah der ganz gerade aus.«
    »War das zufällig der Typ aus dem Café, in dem ich immer bin?«
    »Nein, der war gestern da und hat von dir geschwärmt, aber sonst war bei dem alles in Ordnung. Aber der heute, der war seltsam. Am Anfang dachte ich, er ist bestimmt einer von denen, die nur genießen wollen, die sich ein Rezept erschlichen haben, der vielleicht ein bisschen viel am Computer sitzt. Doch dann legte er sich auf den Bauch, und seine Wirbelsäule bestand aus zwei großen Kurven, einer Rechts- und einer Linkskurve.«
    »Wie ein Fragezeichen?«, fragte Ella.
    »Ja, genau wie ein Fragezeichen. So was hab ich noch nie gesehen. Ich fragte ihn erst mal, ob er eine Frage habe. Das mache ich immer, bevor ich anfange. Manche haben ja schließlich eine: wie sie liegen sollen oder so. Der Mann hob seine Stirn und schaute mich an. Ich sagte, wenn er keine Frage habe, dann könnten wir ja anfangen. Er drückte seine Nase wieder ins Handtuch und verstummte. Nach einer ganzen Weile flüsterte er: ›Ich glaube, genau das ist das Problem. Ich kenne meine Frage nicht. Mein Leben fühlt sich an wie die Antwort auf eine Frage, die ich nicht kenne.‹ Dann drehte er seinen Kopf wieder in meine Richtung und sagte: ›Ich weiß ja nicht, wie Sie so sind. Vielleicht können Sie mit solchen Sachen auch gar nichts anfangen?‹ Ich sagte nur: ›Ist schon okay.‹ Von da an haben wir nicht mehr miteinander gesprochen, kein Wort, nicht mal ›auf Wiedersehen‹. Das war schon komisch.«
    »Sah er denn gut aus, der ratlose Mann mit dem Fragezeichenrücken?«
    »Kannst du mal an was anderes denken?«
    »An was denn bitte?«
    »Ans Essen zum Beispiel«, sagte Jasmin und schob Ella die Speisekarte über den Tisch.
    »Ich esse nichts, ich treffe Paul später noch.«
    Jasmin schaute nicht auf: »Sag ich doch. Ich muss jetzt aber was essen, ich hab einen Riesenhunger.«
    »Mach ruhig«, sagte Ella.
    Jasmin klappte die Karte wieder zu. Der Campari kam, sie nahm einen großen Schluck.
    »Weißt du, was mir heute passiert ist?«, fragte Ella. »Ich hab an einer Ampel eine Wohnungstauschannonce entdeckt. Ein älterer Herr tauscht sechs Zimmer Charlottenburg gegen eine kleine Wohnung in Mitte. Ich hab gleich angerufen. Die Wohnung ist unglaublich, von oben bis unten voll mit kuriosen Sachen. Er heißt Horowitz und ist Meeresforscher oder so was in der Art, ganz habe ich das noch nicht verstanden. Auf jeden Fall muss er eine Koryphäe sein, das merkt man gleich. Er ist steinreich und erfolgreich und weiß alles Mögliche. Er redet ein bisschen viel, aber ich mag ihn trotzdem. In seinem Wohnzimmer steht ein brachliegendes Riesenaquarium. Und er hat mir was von einem Urschleim und dem Puls des Meeres erzählt, von Haien und Meermännern und
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