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281 - Bausteine des Lebens

281 - Bausteine des Lebens

Titel: 281 - Bausteine des Lebens
Autoren: Sascha Vennemann
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versammelten und dem Hüter huldigten.
    Heute Morgen herrschte eine gewisse Unruhe, denn in der Nacht hatte es ein kurzes Beben gegeben; nicht stark, aber doch spürbar. Und auch die Morgenröte schien heute früher den Himmel zu erleuchten als sonst.
    Der Chiiftan trat vor, verneigte sich kurz vor den Knochen, die sie mit Draht in der ursprünglichen Position hielten, und breitete die Arme aus. »Segne diesen Tag, Bewahrer, wie du auch uns gesegnet hast!«, rief er laut und fixierte das Skelett, dass auf etwa einer Speerlänge Höhe an einen stabilen Pfahl gebunden war.
    Der Schädel des Hüters blickte mit leeren Augenhöhlen auf die Bewohner des Dorfes herab. Seine Flügelknochen mit den ledrigen Schwingen hatte man ausgebreitet, sodass seine Gestalt die volle Erhabenheit seiner einstigen Existenz widerspiegelte.
    »Wie du weißt, ist die Ernte weiter einzufahren«, fuhr Teggar fort. »Alles, was wächst, hast du uns geschenkt, o Hüter. Denn das Wasser deines gesegneten Sees ist der Quell, der all unsere Früchte wachsen lässt.«
    »Preiset den Hüter!«, skandierte die Heilige Frau, die wie immer in der ersten Reihe kniete, und hob ein Messer, das sie dem Skelett entgegenreckte. »Preiset den Hüter!«, antwortete die Gemeinschaft, und alle Dörfler schlugen beifallartig mit der flachen Hand auf den festgeklopften Boden, so wie es Sitte war. Die Heilige Frau setzte die Klinge auf den Handballen ihrer Linken und zog sie mit einem Ruck darüber.
    Eine klaffende Wunde entstand. Der Hüter würde sie binnen weniger Minuten wieder schließen; so bekräftigte er allmorgendlich den Bund mit den Unsterblichen.
    Teggar verteilte wie üblich die Aufgaben für den Tag unter den Anwesenden, dann sprach er ein paar Schlussworte. Noch einmal verneigten sich alle zum Hüter hin, dann war das kurze Zeremoniell beendet und die Männer und Frauen erhoben sich, um sich ihrem Tagwerk zu widmen.
    Da zerriss ein Schrei die morgendliche Besinnlichkeit. Alle fuhren herum und schauten zum Totem.
    Es war die Heilige Frau gewesen, die den Schrei ausgestoßen hatte. Verwundert hielt sie ihre rechte Hand in die Höhe und wimmerte dabei. Noch immer war auf dem Handteller der breite blutige Riss zu sehen. Blut perlte aus der Wunde und tropfte zu Boden.
    Verwirrt blickten die Männer und Frauen sich an. Sollte sich die Wunde nicht bereits geschlossen haben?
    Aber die Wunde schloss sich nicht. Sie blutete weiter. Wie damals, als der Hüter gestorben war.
    Langsam begriffen die Dörfler. Bestürzte Mienen legten sich auf die Gesichter. Die bange Frage kam auf, ob dieses Phänomen nur die Heilige Frau betraf oder für sie alle galt.
    »Ruhe!«, verlangte Teggar und bahnte sich einen Weg durch seine Leute, die sich jetzt rund um das Totem und die verletzte Frau drängten. »Macht Platz! Weg mit euch!« Die Menge wich ein paar Schritte zurück, blieb aber vor Ort, und Teggar kniete neben der Heiligen nieder. »Was passiert hier?«, fragte er leise. »Warum heilt der Hüter die Verletzung nicht?«
    Die Frau konnte ihren Blick nicht von der Wunde lassen. »Das… das kann nicht sein!«, stammelte sie. Dann murmelte sie ein Gebet. Aber nichts weiter geschah, als dass sich langsam vom Rand der Wunde her eine Kruste bildete. Ganz wie bei jeden Normalsterblichen.
    »Was hat das zu bedeuten?«, zischte Mecloot, der aus der Menge der Wartenden und Tuschelnden herausgetreten und zu ihnen gekommen war. Seine Stellung als Berater und Freund des Chiiftan erlaubte ihm ein solches Verhalten.
    »Sieh dir das an!«, murmelte Teggar und nahm die verletzte Hand in seine. »Das Geschenk des Hüters wirkt bei ihr nicht mehr!«
    Mit dem Zeigefinger tupfte Mecloot etwas von dem Blut auf und verrieb es auf seinem Handrücken. »Ist das eine weitere Zeit der Sterblichkeit? So wie im letzten Winter, als der Hüter von uns ging?«, mutmaßte er. »Aber warum? Und warum jetzt?«
    Die Heilige Frau sank kraftlos in sich zusammen. Die Aufregung war zu viel für sie. Der Schock , dachte Teggar. Wir sollten sie in ihre Hütte bringen und verarzten. Aber erst musste er zu seinem Clan reden, das erwartete man jetzt von ihm.
    Er erhob und räusperte sich. Sofort verstummten alle Gespräche. »Ihr erinnert euch alle an die Zeit, als der Hüter von uns ging«, begann er. »Damals waren wir für kurze Zeit ohne seine Gnade, doch sie kehrte zu uns zurück.« Er warf einen kurzen Blick auf die Heilige Frau, die leise wimmerte. »Nun scheint sie uns erneut verlassen zu haben. Zumindest
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