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214 - Der Mann aus der Vergangenheit

214 - Der Mann aus der Vergangenheit

Titel: 214 - Der Mann aus der Vergangenheit
Autoren: Michael M. Thurner
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dieser Lampen. Wir gewinnen die notwendige Kraft aus mehreren alten Batterien. Und das hier« – er deutete mit einer weit ausladenden Bewegung in die breite Kellerflucht – »ist der Haufen.«
    ***
    Es waren Bücher.
    Hunderte von Büchern! Wissen, verpackt zwischen Kartondeckel. Viele waren von Würmern zerfressen, andere von Wasser unleserlich gemacht. Die meisten waren in einer seltsamen Form des Englischen verfasst.
    Pilâtre de Rozier beherrschte die Sprache leidlich, doch manche Zeichen waren anders, als er sie gelernt hatte. Die Typographie erschreckte ihn in ihrer Banalität. Es gab keine Zierbuchstaben, auf Form und Anschein wurde kaum Wert gelegt. »The Damned Utd«, las er angestrengt.
    »Von David Peace.«
    Das Buch besaß keine Prägung, und der Karton war nicht mit Leder umpackt. Die Vorderseite war fast so dünn wie die Seiten des gesamten Werks. Ein verblichenes Bild zeigte mehrere Gestalten, die in Reih und Glied am Betrachter vorbeizogen.
    Es war nicht gemalt. Die menschlichen Gestalten waren irgendwie… anders auf das Papier porträtiert und affichiert worden.
    »Das hier ist unglaubliches Wissen«, sagte Jean-François beeindruckt.
    »Die Schwierigkeit besteht darin, es gezielt einzusetzen. Manche von uns verstehen die Wörter, aber nicht den Sinn, der dahinter steckt. Weißt du, was ich meine?«
    Ja, das tat er. Er begegnete hier denselben Problemen wie in den Kreisen seiner früheren… Umgebung.
    Niemand wagte es, ein Gesamtbild zu malen. Jedermann erschauderte vor der Größe der Aufgabe und beließ es dabei, sich ein schmales Wissenssegment anzueignen.
    Zu wenig Zeit, zu wenig Zeit…
    Er griff nach einem weiteren Buch, blies den Staub vom Vorderbild – und betrachtete es fassungslos.
    Vorsichtig blätterte er um, damit die vergilbten Seiten nicht zerfielen. Seine Hände zitterten, sein Herz schlug wie verrückt.
    »Was ist mit dir, lambaa?«, fragte Wabo.
    »Ich sehe etwas, das es nicht geben darf.« Seine Stimme versagte, und er wünschte den Tod herbei, um seinen Geist diesem Irrsinn nicht weiter auszusetzen.
    »Was meinst du?« Der Schwarze trat neben ihn und warf ebenfalls einen Blick in das Buch. Es war Voll mit Skizzen und Abbildungen von einer Qualität, die Jean-François niemals zuvor gesehen hatte.
    »Das Buch ist in Englisch geschrieben und nennt sich: Eine Geschichte der Luftfahrt. Es erzählt von Menschen und deren Erfindungen. Hier, ganz zu Beginn von griechischen und römischen Mythologien, die auch mir ein Begriff sind. Oder da: ein Fluggerät, das Leonardo da Vinci entwickelt hatte.«
    »Und?« Wabo zuckte mit den Schultern. »Wir wissen, dass die Alten fliegen konnten, so rasch wie der Wind. Doch diese Fähigkeiten sind längst verloren gegangen.«
    »Die Alten…«, sagte Jean-François versonnen. »Sie lebten, als ich verschwunden war. Sie sind nach mir gekommen… und vor mir gestorben.« Er deutete auf ein oval gemaltes Bild. »Sieh her, Freund: Das hier bin ich. Der Text sagt, dass ich ein Pionier der Luftfahrt, aber auch ihr erstes Opfer gewesen sei. Ich bin gestorben, und ich bin wieder auferstanden.« Er begann zu lachen, und er lachte und lachte, bis ihm die Tränen kamen.
    ***
    Es galt, den Schock zu verdauen. Es galt, so viel Neues,
    Altes
    zu lernen. Es galt, ein neues Weltbild zu finden.
    Er musste sich selbst neu erfinden.
    Die Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts hatte ihm nicht viele Möglichkeiten geboten, über Entwicklungen einer weit entfernten Zukunft nachzudenken. Er war fest in der Gegenwart verankert gewesen, hatte sich um aktuelle wissenschaftliche Traktate und Schriften gekümmert. Tag und Nacht hatte er sich darin vertieft und über Dinge sinniert, die ihm halfen, ein Ziel und seine Lebensmitte zu finden.
    Nun musste er dasselbe nochmals tun, allerdings mit Büchern bewaffnet, die großteils aus dem 20. und beginnenden 21. Jahrhundert stammten.
    Jean-François’ mühsam aufrecht gehaltene Theorie, sich durch ein Traumland zu bewegen, brach in sich zusammen. Zu real waren seine Erlebnisse, zu schlüssig die Dinge, die er Tag für Tag im Lager der Ambassai erlebte. Die große Katastrophe, die über mehrere Generationen hinweg die Welt im Dunkeln belassen hatte, war bereits durch Passagen in der Heiligen Schrift angekündigt worden. Zu seinen – früheren – Lebzeiten hatten sich Scharlatane an belebten Straßenecken die Seele aus dem Leib gebrüllt, um vom Ende der Welt zu künden. Sie hatten Recht behalten, aber nicht mit der
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