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1356

1356

Titel: 1356
Autoren: Bernard Cornwell
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Er spannte seinen Bogen halb, trat aus der Gasse heraus, suchte ein Ziel, fand keines und trat wieder zurück. «Die arme Frau ist also dort in der Burg», fuhr er fort, «und das Schwein bezahlt uns, damit wir sie möglichst schnell herausholen.»
    Bruder Michael spähte um die Ecke und zuckte zurück, als zwei Armbrustbolzen durch den Schein des Feuers flogen. Die Bolzen rasten dicht neben ihm an die Wand, und auch sie schleuderten klappernd über das Pflaster. «Glück gehabt, was?», sagte Sam fröhlich. «Die Bastarde haben mich gesehen, auf mich gezielt, und dann hast du deine Nase rausgestreckt. Du könntest jetzt schon im Himmel sein, wenn die Kerle zu einem ordentlichen Schuss in der Lage wären.»
    «Ihr werdet es nie schaffen, die Dame aus dieser Burg zu holen», tat Michael seine Meinung kund.
    «Werden wir nicht?»
    «Die Burg ist zu stark befestigt.»
    «Wir sind die Hellequin», sagte Sam, «das heißt, dem armen Luder bleibt noch ungefähr eine Stunde mit ihrem Liebhaber. Ich hoffe, er besorgt’s ihr so richtig, damit sie was hat, woran sie sich erinnern kann.»
    Michael wurde rot, ohne dass Sam es bemerkte. Frauen machten Michael unsicher. Die meiste Zeit seines Lebens hatte diese Versuchung keine Rolle gespielt, denn in der Klausur seines Zisterzienserkonvents bekam er kaum jemals eine Frau zu Gesicht, doch seit er von Carlisle abgereist war, hatte der Teufel tausend Fallstricke auf seinem Weg ausgelegt. In Toulouse hatte ihn eine Hure von hinten gepackt, ihn gestreichelt, und er hatte sich losreißen müssen, zitternd vor Scham, und dann war er auf die Knie gesunken. Die Erinnerung an ihr Lachen war wie ein Peitschenhieb auf seine Seele, genau wie die Erinnerungen an all die anderen Mädchen, die er gesehen hatte, angestarrt hatte und über die er nachgedacht hatte, und dann fiel ihm die weiße Haut der jungen Frau am Stadttor ein, und Michael wusste, dass der Teufel ihn wieder in Versuchung führte, und er wollte gerade um Stärke beten, als ihn ein Sirren ablenkte und er einen Hagel von Armbrustbolzen auf den Marktplatz niedergehen sah. Ein paar der Bolzen trafen spitz auf das Kopfsteinpflaster, sodass Funken sprühten, und Bruder Michael fragte sich, warum die Verteidiger schossen, dann sah er Männer in dunklen Umhängen aus allen Gassen auf den Platz hasten und Aufstellung nehmen. Es waren Bogenschützen, die nun begannen, die hoch aufragenden Festungsmauern zu beschießen. Es waren Scharen von Pfeilen; nicht die kurzen, ledergeflügelten Metallbolzen der Armbrustschützen, sondern englische Pfeile, weiß befiedert und lang, die leise auf die Mauerkronen zurasten, nachdem sie von den großen Eibenholzbögen mit den Hanfsehnen geschnellt waren, die bei jedem Schuss schwirrten wie Saiten einer Harfe. Die Pfeile zitterten zunächst, wenn sie von der Sehne wegflitzten, dann stabilisierte die Befiederung ihren Flug, und sie zuckten aufwärts, weiße Blitze im Dunkel, in deren Stahlspitzen sich das Feuer spiegelte, und der Mönch stellte fest, dass die Bolzen der Verteidiger, die gerade noch wie ein dichter Schauer niedergegangen waren, plötzlich spärlich wurden. Die Bogenschützen überschütteten die Verteidiger der Burg mit Pfeilen, zwangen die Armbrustschützen, sich hinter die Brustwehr zu ducken, während andere Bogenschützen die Schießscharten in den Flankentürmen unter Beschuss nahmen. Das Geräusch, mit dem die Stahlspitzen an die Burgmauern rasten, hörte sich an wie Hagel auf Kopfsteinpflaster. Ein Bogenschütze stürzte, einen Bolzen in der Brust, rücklings um, doch er war das einzige Opfer, das der Mönch sah, und dann hörte er die Räder.
    «Geh zurück», ermahnte in Sam, und der Priester trat in die Gasse zurück, als ein Karren an ihm vorbeipolterte. Es war ein kleiner, mit Holzfässchen beladener Karren, leicht genug, um von sechs Männern geschoben zu werden, doch er war mit zehn großen Pavesen verstärkt worden, jenen mannshohen Schilden, mit denen sich Armbrustschützen beim Nachladen ihrer sperrigen Waffe schützten.
    «Jetzt haben sie nicht mal mehr eine Stunde Zeit», sagte Sam und trat wieder auf die Straße, als der Karren vorbeigefahren war. Er spannte seinen Langbogen und schickte einen Pfeil zum Burgtor.
    Es war merkwürdig still. Bruder Michael hatte erwartet, dass eine Schlacht laut wäre, hatte erwartet, dass die Männer Gott mit lauten Rufen um ihr Seelenheil anflehten, dass vor Angst oder Schmerz die Stimmen erhoben würden, doch er hörte nur die Schreie
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