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12 Stunden Angst

12 Stunden Angst

Titel: 12 Stunden Angst
Autoren: Greg Iles
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Spielplatz gegangen war, setzte Laurel sich an den runden Tisch, an dem sie ihre Elternsprechstunde zu halten pflegte. Hätte sie hinter einem Pult gesessen, hätte es manchen Eltern das Gefühl gegeben, belehrt zu werden; der runde Tisch jedoch ließ den Eindruck von Gleichrangigkeit und Partnerschaft entstehen. Laurel hatte elf lernbehinderte Kinder in ihrem Programm – beinahe zu viele angesichts der Tatsache, dass sie nur begrenzte Hilfe durch eine Assistentin hatte. Doch Athens Point war eine Kleinstadt, und die Eltern hatten nur wenige Möglichkeiten. Laurels Schüler zeigten ein breites Spektrum an Verhaltensauffälligkeiten, angefangen bei ADHS über krankhafte Aufsässigkeit bis hin zu mentaler Retardiertheit und Autismus. Mit einer so breit gefächerten Palette fertig zu werden war harte Arbeit, doch Laurel genoss die Herausforderung.
    Um sicherzugehen, dass die Elternsprechstunden informativ und für beide Seiten so hilfreich waren wie nur möglich, machte Laurel während des Schuljahrs sorgfältig Notizen über jeden ihrer Schüler, doch keine Akte war detaillierter als die von Starlette McDavitts Sohn Michael.
    Selbst wenn Laurel die Augen schloss, sah sie die einstige Schönheitskönigin aus Tennessee in ihrer neuesten Garderobe aus dem Versandhauskatalog ins Klassenzimmer rauschen, das wasserstoffblonde Haar perfekt frisiert, die Nägel makellos lackiert, der Bauch pathologisch dünn, die schicken Cowboystiefel (die inzwischen sicherlich passé sein mussten) auf Hochglanz poliert.
    Laurels Abneigung gegen Starlette McDavitt hatte nicht erst während der Affäre mit Starlettes Mann begonnen, sondern schon bei ihrer ersten Begegnung, als deutlich wurde, dass Mrs. McDavitt ihren autistischen Sohn als Bürde betrachtete, die ein ungerechter Gott ihr aufgeladen hatte. Starlette hatte sich eine halbe Stunde lang darüber ausgelassen, dass manche Eltern behaupteten, Autismus würde durch Quecksilber in gesetzlich vorgeschriebenen Impfstoffen hervorgerufen. In ihrem tiefsten Innern jedoch war Starlette davon überzeugt, dass es eine göttliche Strafe war. Etwas so durch und durch Destruktives musste der Wille Gottes sein; sie glaubte fest daran. Und es war nicht notwendigerweise eine Strafe für etwas, das man selbst getan hatte. Es konnte eine Strafe sein für eine Sünde, die einer ihrer Ahnen begangen hatte – Vergewaltigung oder Inzest oder irgendetwas Düsteres, von dem man nichts ahnte. In weniger als einer Stunde war Laurel klar geworden, dass Michael McDavitts primäre Bezugsperson sein Vater Daniel war, fünfzehn Jahre älter als seine Frau.
    Danny McDavitt war ein freundlicher Mann Ende vierzig. Er sah jünger aus, doch in seinen Augen lag eine stille Weisheit, die von beträchtlicher Erfahrung zeugte. Es dauerte nicht lange, bis Laurel herausfand, dass Danny ein Kriegsheld war, ein Einheimischer aus Athens Point, der seinen Geburtsort mit achtzehn verlassen hatte und wie der sprichwörtliche verlorene Sohn dreißig Jahre später heimgekehrt war. Während der ersten Wochen von Michaels Begutachtung hatte Laurel nicht mehr über ihn erfahren, als dass er im Golfkrieg als Helikopterpilot gedient hatte und inzwischen wegen mehrerer Verwundungen im Ruhestand war. Nun war er für eine lokale Fluggesellschaft tätig. Offenbarwaren entweder das Fliegen oder die Kampferfahrung ein gutes Training für den Umgang mit lernbehinderten Kindern, denn in ihren neun Jahren Unterricht hatte Laurel noch nie einen Vater gesehen, der härter an seiner Beziehung zu seinem entwicklungsverzögerten Sohn gearbeitet hatte als Danny McDavitt.
    Das Problem war seine Frau.
    Das einzige Rätsel an Starlette McDavitt war, wieso Danny sie überhaupt geheiratet hatte. Dieser eine Schritt verriet eine krasse Fehleinschätzung, was völlig untypisch für Danny zu sein schien. Selbstverständlich war Laurel aufgefallen, dass selbst die intelligentesten Männer sich zum Narren machen konnten, wenn es um die Wahl ihrer Frauen ging. Sie waren wie kleine Jungen in der Eisdiele. Ich möchte etwas DAVON . Hmmm, lecker! Ich will noch mehr. Und schon bald kauften sie den ganzen Eimer, damit sie immer genug hatten. Doch hatten sie erst jeden Tag unbeschränkten Zugang zu ihrer Eiskrem, waren sie den Geschmack schnell leid. Die Eiskrem sah nicht einmal mehr so lecker aus wie hinter der kalten, funkelnden Glasscheibe.
    Starlette sah appetitlich aus, zugegeben, und ihr Aussehen passte zu ihrem Namen. Sie war eine einstige Miss Knoxville oder so
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