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112 - Der tägliche Wahnsinn

112 - Der tägliche Wahnsinn

Titel: 112 - Der tägliche Wahnsinn
Autoren: Ingo Behring
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Augen an, als sähe er einen Film.
    Die Schwester war niedergeschlagen. «Hören Sie, der war erst vor zwei Wochen mit Magenbluten im Krankenhaus», erzählte sie. «Und jetzt geht das schon wieder los!»
    Manni hakte nach: «Woher kommt das denn? Magengeschwüre? Oder hatte er eine OP ?»
    «Na ja, der säuft doch nur. Und nimmt Medikamente. Der Arzt meint, daher kämen die Blutungen. Aber er schluckt das Zeug trotzdem. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll, der hört nicht auf damit!» Sie war sichtlich verzweifelt.
    «Hat Ihr Bruder denn schon mal eine Therapie gemacht?», fragte ich.
    «Ja sicher. Wegen seiner Depressionen. Auch wegen seiner Alkoholsucht. Hat aber nicht lange gehalten. Und vor zwei Wochen, beim letzten Krankenhausaufenthalt, wurde er entgiftet. Der Hausarzt hatte ihm für die Zeit danach einen Therapieplatz besorgt. Der Vorstellungstermin war vor zehn Tagen. Aber zum Aufnahmegespräch ist er nicht nüchtern erschienen, da hatte sich das wieder erledigt.» Sie hatte Tränen in den Augen. «Können Sie ihn nicht mitnehmen? Auch wenn er das nicht will, er muss doch eine Therapie machen. Der stirbt sonst bald!»
    Ich musste sie enttäuschen: «Eine Therapie wird er im Krankenhaus nicht bekommen, das wissen Sie ja. Höchstens eine weitere Entgiftung. Und einen Platz in einer Entziehungsklinik erhält man auch nicht per Notfalleinweisung. Da muss er schon selbst beweisen, dass er es wirklich will. Und das hat ja anscheinend bislang nicht geklappt.»
    Sie fragte, nein, sie flehte uns an, ihren Bruder doch zwangsweise in einer Klinik unterzubringen. Sie fragte auch, wie lange er denn wohl noch zu leben hätte, wenn er so weitermache.
    «Das kann ich Ihnen nicht sagen», erwiderte ich. «Ich denke aber, dass bei dem Alkohol- und Medikamentenkonsum Leber und Niere mit Sicherheit arg geschädigt sind. Na ja, und der Magen und die Speiseröhre … Der Zustand ist Ihnen bekannt. Sie haben uns ja wegen der Blutungen gerufen. Zumindest können wir ihn mitnehmen, sodass die Ärzte sich Ihren Bruder noch einmal anschauen. Auch wegen der Medikamente. Wer weiß, wie viele er heute schon genommen hat.» Ich blickte auf die zahlreichen leeren Tablettenblister, die in dem Zimmer verstreut waren.
    Der Patient, der kaum aus den Augen schauen konnte, weil sein Gesicht vom Drogenmissbrauch so aufgeschwemmt war, saß wackelnd auf der Bettkante und bettelte uns in lichten Momenten an: «Hamse nich was für mich? Nur ’n bisschen Diazepam oder so.» Seine schwierige Karriere, die uns jetzt seine Schwester wiedergab, sah so aus: keine Arbeit, Depressionen, deswegen Alkohol, und weil der nicht gegen die psychischen Probleme half, zusätzlich Medikamente. Dadurch bekam er zwar kurzfristig einen Rausch, auf die Dauer aber Magen- und Speiseröhrenblutungen, unter anderem.
    Manni schaute mitleidig auf seine etwa zehnjährige Nichte, die in der Tür neben ihrer Mutter stand und uns erwartungsvoll anschaute. Wieder einmal musste ein Kind mit der Situation fertig werden. Doch wirklich helfen konnten wir ihrem Onkel nicht. Mein Kollege wandte sich an mich: «Den können wir nicht hier lassen. Wer weiß, wenn der im Delirium sein Blut oder Erbrochenes einatmet, erstickt der noch.»
    Ich seufzte. «Aber die zwei Stockwerke runterstolpern kann der auch nicht», gab ich zu bedenken. «Selbst mit Unterstützung wäre mir das zu heiß: Stürzt er, können wir dem Staatsanwalt erklären, warum der Mann sich das Genick gebrochen hat. Wir brauchen Tragehilfe, alleine packen wir das nicht.»
    Ich rief unsere Leitstelle an und ließ zur Unterstützung ein Löschfahrzeug kommen.
    Nach etwa fünf Minuten Wartezeit, in denen uns die Schwester des Alkoholikers ihre Leidensgeschichte berichtete, wie sie unter den Depressionen ihres Bruders gelitten habe, unter seinen Aggressionen und Räuschen, trafen die Kollegen ein. Zwei der drei ins Zimmer eintretenden Kollegen kannten den Patienten.
    «Hey, den habe ich doch schon mal gefahren», meinte Steffen. «Da habe ich ihn an einer Haltestelle aufgesammelt.»
    «Ja, richtig, ich kenne den auch», ergänzte Dieter. «Hat nach mir getreten, weil er dachte, ich wollte ihm den Schnaps klauen.»
    Mit vereinten Kräften bugsierten wir den übergewichtigen jungen Mann auf unser Tragetuch und transportierten ihn das enge Treppenhaus hinunter. Auf der Straße legten wir ihn auf die vorbereitete RTW -Trage und verfrachteten ihn ins Auto.
    Unterwegs zum Krankenhaus erbrach er immer wieder. Heimlich träufelte
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