Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1 - Wächter der Nacht

1 - Wächter der Nacht

Titel: 1 - Wächter der Nacht
Autoren: Sergej Lukianenko
Vom Netzwerk:
Fläschchen mit diesem ungenießbaren Fusel greifen müssen, der mir auch nicht geschadet hätte. Ich wollte Blut.
    Und zwar weder von einem Schwein noch von einer Kuh, sondern von einem Menschen.
    Verflucht sei diese Jagd …
    »Du musst da durch«, hatte der Chef gesagt. »Fünf Jahre in der analytischen Abteilung sind eine lange Zeit, findest du nicht?« Ich weiß nicht, vielleicht ist das eine lange Zeit, aber mir gefällt es da. Außerdem gab sich der Chef selbst auch seit mehr als hundert Jahren nicht mehr mit operativer Arbeit ab.
    Ich rannte an den erleuchteten Schaufenstern vorbei, in denen sich nachgemachte weißblaue Gsheler Keramik oder Lebensmittel aus Plastik türmten. Autos rasten vorbei, hier und da waren noch ein paar Leute unterwegs. Doch auch das war eine Fälschung, eine Illusion, war nur eine der Seiten der Welt – und die einzige, die Menschen zugänglich ist. Wie gut, dass ich kein Mensch bin.
    In vollem Lauf rief ich das Zwielicht herbei.
    Die Welt seufzte auf und trat zur Seite. Als würden mir die Scheinwerfer einer Startbahn in den Rücken knallen, grub sich plötzlich vor mir ein langer dünner Schatten in den Boden. Der Schatten wölkte auf und gewann Volumen, der Schatten zog sich in sich selbst zurück, in den Raum, in dem es keine Schatten mehr gibt. Riss sich vom schmutzigen Asphalt los, erhob sich, federnd, gleich einer Säule aus dichtem Rauch. Der Schatten lief vor mir her …
    Während ich immer schneller rannte, zerschlug ich die graue Silhouette und trat ins Zwielicht ein. Die Farben der Welt verblassten, die Autos auf dem Prospekt schienen langsamer zu fahren, stecken zu bleiben.
    Ich näherte mich dem Ort meiner Bestimmung.
    Als ich in den Tordurchgang trat, war ich darauf gefasst, nur noch das Schlussbild zu sehen: den unbeweglichen, ausgelaugten, leer getrunkenen Körper des Jungen und die im Verschwinden begriffenen Vampire.
    Doch ich kam rechtzeitig.
    Der Junge stand vor der Vampirin, deren lange Eckzähne aufblitzten, und zog langsam den Schal weg. In diesem Moment hatte er bestimmt keine Angst – der Ruf erstickte das Bewusstsein absolut. Wahrscheinlich sehnte er sich sogar danach, dass die spitzen, funkelnden Eckzähne ihn berührten.
    Neben den beiden stand ein Vampir. Intuitiv erfasste ich sofort, dass er das Sagen hatte: Er hatte die Frau initiiert, er hatte sie ans Blut gebracht. Und das Widerlichste von allem: Er hatte eine Moskauer Registriermarke. Dieses Schwein!
    Immerhin erhöhte das meine Erfolgsaussichten.
    Die Vampire drehten sich mir zu, waren jedoch verwirrt und begriffen nicht gleich, was hier vor sich ging. Der Junge stand in ihrem Zwielicht, sodass ich ihn nicht hätte sehen können, nicht hätte sehen dürfen. Wie sie selbst auch nicht.
    Nach und nach entspannte sich das Gesicht des jungen Vampirs, er lächelte sogar, freundlich und ruhig.
    »Hallo.«
    Er hielt mich für einen von seinesgleichen. Was ihm nicht vorzuwerfen war: Im Moment war ich wirklich einer von ihnen. Fast. Die Woche Vorbereitung war nicht umsonst gewesen: Ich fing an, sie zu spüren – wäre dafür aber beinah selbst auf der Dunklen Seite gelandet.
    »Nachtwache«, sagte ich. Ich streckte die Hand mit dem Amulett vor. Es war zwar entladen, aber das war auf die Entfernung nicht so leicht mitzukriegen. »Tretet aus dem Zwielicht heraus!«
    Der Mann hätte womöglich gehorcht. In der Hoffnung, dass ich nichts von der Blutspur wusste, die er hinter sich herzog, und das Ganze als »Versuch der unerlaubten Interaktion mit einem Menschen« abgetan wurde. Doch die Frau verfügte nicht über seine Selbstbeherrschung und vermochte ihre Lage nicht einzuschätzen.
    »Aaaah!!!« Heulend stürzte sie sich auf mich. Immerhin schlug sie ihre Zähne dann nicht dem Jungen ins Fleisch. Sie war jetzt absolut unzurechnungsfähig, wie eine Drogensüchtige auf Turkey, der man die Spritze, die sie sich gerade setzt, aus den Adern reißt, wie eine Nymphomanin, aus der man sich kurz vor dem Höhepunkt zurückzieht.
    Für einen Menschen kam die Attacke zu schnell, niemand hätte sie parieren können.
    Doch ich befand mich in derselben Realitätsschicht wie die Vampirin. Ich riss die Hand hoch und spritzte ihr etwas von dem Fusel direkt in das durch die Transformation entstellte Gesicht.
    Warum vertragen Vampire Alkohol so schlecht?
    Das bedrohliche Geschrei ging in ein leises Wimmern über. Die Vampirin drehte sich um sich selbst und hämmerte mit den Händen auf ihr Gesicht ein, von dem die Haut und das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher