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0936 - Schattentheater

0936 - Schattentheater

Titel: 0936 - Schattentheater
Autoren: Susanne Picard
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Stahlfachwerk erhaschen. »Und dort vorn sehen Sie bereits die ersten Wolkenkratzer von Shinjuku. Dort befindet sich der Verwaltungsbezirk von Tokio. Auch ein Kaiserlicher Park befindet sich hier. Sie sind übrigens gerade rechtzeitig zur Kirschblüte gekommen. Ein großes Glück, ich hoffe sehr, dass Sie Zeit haben werden, sich das im Kaiserlichen Park anzusehen. Aus ganz Japan reisen zu dieser Zeit die Touristen an, um dieses Schauspiel zu genießen!«
    Geistesabwesend antwortete Nicole etwas Höfliches. Doch in Gedanken war sie ganz woanders. Diese Stadt ist unglaublich groß. Wie konnte ich nur auf den Gedanken kommen, dass ich den Shinigami hier finden werde? Wenn er überhaupt in Tokio ist. Er könnte doch überall sein…
    Ich muss völlig verrückt gewesen sein.
    ***
    Etwa zwanzig Minuten später hielt das Taxi mit quietschenden Reifen vor einem einstöckigen Gebäude, das zwar modern, aber doch japanisch aussah. Trotz der prächtigen Kiefer und des Stücks sorgfältigst gepflegten Gartens davor wirkte es unscheinbar und nicht wie ein Theater, eher wie ein Landhaus. Minamoto-san begann sofort nach dem Aussteigen wieder mit dem Taxifahrer zu streiten - wenn auch gedämpft, wohl, um nicht das Gesicht zu verlieren. Nicole wandte sich dezent ab und betrachtete das Gebäude vor ihr.
    Doch die Verhandlungen schienen schon bald abgeschlossen, Minamoto-san zog Nicoles Koffer hinter sich her und das Taxi verschwand mit Vollgas. Nicole schnappte sich den Koffer. »Bitte, Madame, hier entlang«, beeilte sich Minamoto-san zu sagen und ging voraus.
    So unscheinbar das Gebäude von außen auch ausgesehen hatte - kaum hatte Nicole es betreten, fühlte sie sich in eine andere Welt versetzt. Überall auf dem Boden lagen die typischen Tatami, Matten aus Reisstroh. Sonst war kaum Möblierung zu erkennen, hier und da ein kleines Gesteck aus Blumen oder ein Bonsai-Baum vor einem Rollbild. Durch die mit Papier bespannten Schiebetüren, von denen einige halb offen standen, um frische Luft hereinzulassen, sah man den sonnenbeschienenen Garten. Als sich die Tür des Haupteingangs hinter Nicole schloss, blieb auch der Lärm ausgesperrt und es wurde still.
    Nicht nur eine andere Welt, auch eine andere Zeit , dachte Nicole und sah verstohlen aus den Augenwinkeln, dass sich Minamoto-san die Schuhe auszog, um in ein Paar der vor ihnen stehenden Filzpantoffeln zu schlüpfen. Nicole stellte den Koffer ab und tat es ihm gleich, was bei ihren Pumps glücklicherweise keine große Schwierigkeit darstellte.
    Als sie hinter Minamoto-san den eigentlichen Theatersaal betrat, waren nur wenige Leute darin versammelt. Doch auf der Bühne, die L-förmig angelegt war, war das Stück bereits im Gange. Unter einem Dach saßen im Hintergrund drei Musiker, zwei Trommler und ein Flötist, die die für Nicoles Ohren sehr dissonante Melodien mit einem tiefen Gesang begleiteten. Im Vordergrund bewegte sich eine furchterregende Figur - ein rot-schwarzes Gewand mit einer Maske, deren Stirn im Gegensatz zum Rest weiß blieb. Darüber türmte sich ein Wust schwarzer, wilder Haare. Der Mund, beinahe ein Maul, unter weit aufgerissenen dunklen Augen, war geöffnet und spitze Zähne waren darin zu sehen.
    Minamoto beugte sich vor. »Es sieht aus, als seien wir kurz vor Ende der Generalprobe des bewussten Stücks gekommen. Dort in dem rot-schwarzen Gewand ist der Dämon, er wird von Ieyasu Koichi, dem Theaterdirektor, selbst gespielt. Das Stück folgt einer alten Legende; der menschenfressende Dämon hat sich die Gestalt einer alten Frau gegeben, um die pilgernden Mönche in die Irre zu führen, die bei ihr übernachten wollten. Sie aber haben entdeckt, dass sie nur ein verkleideter Dämon ist. Jetzt wollen sie sie mit Gebeten und dem Aufsagen von buddhistischen Suren besiegen.«
    Nicole nickte dankbar, jetzt verstand sie, was dort passierte. Die Maske des Dämons sah furchterregend aus. Nicole musste an den Shinigami denken. Seine Maske hatte nichts von einer dämonischen Darstellung gehabt. Sie war friedlich gewesen, ebenmäßig, beinahe gleichgültig. Sie fragte sich wieder, ob die Entscheidung, ihn in Japan zu suchen, wirklich die richtige gewesen war.
    Sie musste einfach herausfinden, was hinter den Träumen steckte - sie hatte sogar mittlerweile den Verdacht, dass sie der Grund waren, warum sie aus dem Château ausgezogen war. Sie hatte damit einen Weg beschritten, den sie allein gehen musste. Niemand konnte ihr dabei helfen, auch nicht Zamorra. Besonders Zamorra
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