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09 - Vor dem Tod sind alle gleich

09 - Vor dem Tod sind alle gleich

Titel: 09 - Vor dem Tod sind alle gleich
Autoren: Peter Tremayne
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Regungslos starrte er auf die Prozession von Mönchen und Nonnen, ungerührt und ohne Scheu vor der Arbeit, die er auf dieser makabren Plattform verrichten sollte.
    Aus der Tür der Kapelle traten noch ein Mönch und eine Nonne und gingen mit raschen Schritten auf die Plattform zu. Die hagere Gestalt der Nonne vermittelte einen Eindruck von Größe, der sich aus der Nähe als Täuschung erwies, denn sie war nur mittelgroß, wenngleich ihre finstere, etwas hochmütige Miene ihr ein imponierendes Aussehen verlieh. Ihre Kleidung und das kunstvolle Kruzifix, das an einer Kette um ihren Hals hing, verrieten ihren höheren Rang. Neben ihr ging ein kleiner Mann mit düsterem grauem Gesicht. Auch seine Kleidung ließ einen höheren geistlichen Rang erkennen.
    Sie hielten direkt vor der Plattform an. Auf eine kaum merkliche Handbewegung der Frau hin verstummte der Gesang.
    Eine der Nonnen eilte herbei und blieb vor ihr stehen, den Kopf respektvoll gesenkt.
    »Können wir fortfahren, Schwester?« fragte die reichgekleidete Nonne.
    »Alles ist bereit, Mutter Äbtissin.«
    »Dann wollen wir es mit Gottes Gnade weiterführen.«
    Die Schwester blickte zu einer offenen Tür an der anderen Seite des Hofes hinüber und hob die Hand.
    Sogleich kamen zwei stämmige Männer, Mönche nach ihren Kutten zu urteilen, daraus hervor und schleppten zwischen sich einen jungen Mann mit. Er trug ebenfalls eine Kutte, doch sie war zerrissen und schmutzig. Sein Gesicht war bleich, und seine Lippen zitterten vor Furcht. Schluchzen schüttelte seinen Körper, während er über die Platten des Hofes zu der wartenden Gruppe gezerrt wurde. Die drei Männer blieben vor der Äbtissin und ihrem Begleiter stehen.
    Einen Moment herrschte Schweigen, das nur von dem angstvollen Schluchzen des jungen Mannes durchbrochen wurde.
    »Nun, Bruder Ibar«, fragte die Frau in hartem, unversöhnlichem Ton, »willst du jetzt deine Schuld bekennen, da du an der Schwelle deiner Reise in die andere Welt stehst?«
    Die Laute, die der junge Mann hervorbrachte, ergaben keinen Sinn. Er war zu verstört, um zusammenhängend sprechen zu können.
    Der Begleiter der Äbtissin beugte sich vor.
    »Bekenne, Bruder Ibar.« Seine Stimme zischte eindringlich. »Bekenne, und du brauchst nicht die Qualen des Fegefeuers zu erleiden. Gehe zu deinem Gott ein mit deiner Seele frei von Schuld, und Er wird dich mit Freuden aufnehmen.«
    Endlich drangen verständliche Worte aus der Kehle des jungen Mannes.
    »Pater Abt… Mutter Äbtissin… Ich bin unschuldig. Gott ist mein Zeuge, ich bin unschuldig. «
    Die Miene der Frau verfinsterte sich mißbilligend.
    »Kennst du die Worte im fünften Buch Mose? Hör zu, Bruder Ibar: ›… und die Richter sollen wohl forschen. Und wenn der falsche Zeuge hat ein falsches Zeugnis… gegeben… dann sollt ihr ihn nicht schonen: Seele um Seele, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß.‹ So lautet das Gesetz des Glaubens. Schwöre noch jetzt deinen Sünden ab, Bruder. Geh zu Gott ein, gereinigt von deinen Sünden.«
    »Ich habe nicht gesündigt, Mutter Äbtissin«, rief der junge Mann verzweifelt. »Ich kann nicht widerrufen, was ich nicht getan habe.«
    »Dann wisse, wohin dich deine Torheit unweigerlich führen wird, denn es steht geschrieben: ›Und ich sah die Toten, beide, groß und klein, stehen vor Gott, und Bücher wurden aufgetan. Und ein anderes Buch ward aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach der Schrift in den Büchern, nach ihren Werken. Und das Meer gab die Toten, die darin waren, und der Tod und die Hölle gaben die Toten, die darin waren; und sie wurden gerichtet, ein jeglicher nach seinen Werken. Und der Tod und die Hölle wurden geworfen in den feurigen Pfuhl. Das ist der andere Tod. Und so jemand nicht ward gefunden geschrieben in dem Buch des Lebens, der ward geworfen in den feurigen Pfuhl.‹«
    Sie schöpfte Atem und sah ihren Begleiter wie beifallheischend an. Der Mann neigte den Kopf und verzog keine Miene.
    »Dann geschehe also Gottes Wille«, sagte er ohne Bewegung.
    Die Frau nickte den beiden stämmigen Mönchen zu, die den jungen Mann festhielten.
    »So sei es«, verkündete sie.
    Sie drehten den Gefangenen herum, mit dem Gesicht zur Plattform, und schoben ihn trotz seines Sträubens vorwärts. Er wäre vornüber gefallen, wenn sie ihn nicht gehalten hätten. Bevor er das Gleichgewicht wiedererlangte, hatten sie ihm schon die Arme auf den Rücken gedreht, und einer von ihnen
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