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0604 - Das steinerne Volk

0604 - Das steinerne Volk

Titel: 0604 - Das steinerne Volk
Autoren: Werner Kurt Giesa
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Reize ihres Körpers übten eine überwältigende Wirkung auf ihn aus. Er hatte eine Gefährtin verloren, er benötigte eine neue. Und diese war genau so, wie er sie wollte.
    Was denke ich da? durchfuhr es ihn. Ich will töten, um einen Ersatz für Nicole zu bekommen? Aber diese Steinerne mag noch so wunderschön sein, sie wird niemals so sein wie Nicole!
    Was geschieht mit mir? Ich füge mich hier willig ein, denke an Mord und Tod, akzeptiere beides - das bin nicht mehr ich selbst! Was ist das, was in mir steckt und mir diese furchtbaren Gedanken aufzwingt?
    Jetzt endlich bekam er Antwort auf seine Frage von vorhin.
    »Ich meine Menschen im weitesten Sinne. Es gab schon immer Wesen wie jene, deren Art du entstammst und der vielleicht auch wir entstammen«, sagte der Mann, und die Frau, die nach der Hand des Jünglings griff, ihm einen zärtlichen Blick aus steinernen Augen schenkte und dem steinernen Etwas in Zamorra damit einen schmerzhaften Stich versetzte, diese Frau fuhr fort: »Es spielt keine Rolle, ob es Millionen oder Milliarden Jahre zurückliegt. Wie alt können Steine werden? Steinalt.«
    »Erzählt mir mehr«, verlangte Zamorra. »Was bedeutet dies alles?«
    »Einst waren wir Dämonen«, sagte die alte Frau am Lenkrad des Wagens.
    Zamorras Kopf flog herum.
    Du hast es doch geahnt, schrie das menschliche Etwas in ihm.
    »Was bedeutet das? Dämonen? Gebt mir endlich Wissen, nicht nur Andeutungen.«
    »Du kennst das Rad der Wiedergeburt?«
    Zamorra nickte. »Der Hindu-Glaube. Der Mensch muß immer wiedergeboren werden, von Inkarnation zu Inkarnation. Er soll ein göttergefälliges Leben führen und Gutes tun. Dann wird er in der nächsten Inkarnation eine höhere Stufe des Daseins erlangen. Und immer so weiter, bis er schließlich in all seinen unzähligen, aufeinanderfolgenden Leben jene Stufe erreicht, in der er als Erleuchteter ins Nirwana eingeht - ins Nichts, in dem alles erlischt und es keine weitere Inkarnation mehr gibt. Denn jedes neue Leben ist eine neue Probe, und das höchste Ziel ist, keiner weiteren Probe mehr unterworfen zu werden, sondern die höchste und endgültige Stufe des körperlichen Daseins zu erlangen und dann zu beenden.«
    »Und jene, die Böses tun?« fragte die Schöne. »Was geschieht mit ihnen?«
    »Sie sinken auf die nächsttiefere Stufe«, sagte Zamorra schulterzuckend. »Es ist leicht, zu sinken. Denn jeder Mensch hat Schwächen, und es ist leicht, diesen Schwächen nachzugeben. Es ist leicht, Böses zu tun oder durch Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit Böses zuzulassen. Viel leichter, als standzuhalten, Opfer zu bringen, Gutes zu tun, gegen das Böse zu kämpfen, selbst wenn das die Aufgabe der Existenz bedeutet, die Aufgabe von all dem, was man lieben gelernt hat. Der Kampf für das Gute ist auch das Überwinden des Egoismus.«
    »Aber nicht jeder ist so stark, in diesem Kampf zu siegen«, sagte Walker. »Man ist schwach, man wählt den leichteren Weg. Den negativen Weg. Man stirbt, wird wiedergeboren - auf einer tieferen Stufe. Wenn man sich bewährt, kann man im nächsten Leben wieder auf die ursprüngliche Stufe zurückkehren. Aber es ist schwer, denn auf der niedrigeren Stufe sind die Verlockungen noch viel größer. Jemand, der bettelarm ist, nimmt eher eine auf dem Weg liegende Münze in seinen Besitz als ein Reicher, der sie entweder für den Armen liegenläßt oder sie nur aufhebt, um sie selbst dem Armen zu geben.«
    »Und so sinkt man noch tiefer hinab, und jedesmal wird es schwerer«, sagte Lafayette, der ebenfalls zu ihnen gestoßen war, während das Feuer auf dem Rasen erloschen war und einige Steinerne sich um den Brand im Haus kümmerten. »Oft bedarf es vieler Leben, um zurück auf die ursprüngliche Stufe zu gelangen, von der aus man noch weiter aufsteigen kann. Viele bleiben Leben um Leben auf der gleichen Stufe. Generationen vergehen. Ein Mensch muß Tausende Male wiedergeboren werden, um ein Stück höher zu gelangen.«
    »Aber er braucht nur wenige Leben, um immer tiefer zu sinken. Wenn er die unterste mögliche Stufe des Menschseins erreicht hat, wird er zum Tier«, fuhr Zamorra fort. »Vielleicht ein Elefant, ein Tiger, ein Schwein, eine Ratte, eine Stubenfliege, eine Kakerlake…«
    Eine Kakerlake! durchzuckte es ihn kurz.
    »Und immer so weiter«, sagte der nackte Mann, dessen Statur der David-Figur des Michelangelo glich. Er hatte seinen Arm längst besitzergreifend um die Schulter der Schönen gelegt. »Und schließlich, wenn selbst die
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