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03 - Auf Ehre und Gewissen

03 - Auf Ehre und Gewissen

Titel: 03 - Auf Ehre und Gewissen
Autoren: Elizabeth George
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zurückhalten konnte.
    »Mattie ist krank, Kev. Wer weiß, was ihm fehlt. Fährst du jetzt mit mir zur Schule oder willst du vielleicht den ganzen Tag hier rumstehen und diesem blöden Weibsbild die Hände auf den Schoß halten?«
    Hastig zog Kevin seine Hände von dem anstößigen Körperteil seiner Skulptur und wischte sie an seiner Arbeitshose ab, wo sich der schmierige weiße Brei mit dem Schmutz und dem Staub mischte, die sich bereits an den Nähten festgesetzt hatten.
    »Warte, Pats!« sagte er. »Überleg doch erst mal.«
    »Was gibt's da zu überlegen? Mattie ist krank. Er hat bestimmt Sehnsucht nach seiner Mutter.«
    »Meinst du wirklich, Schatz?«
    »Überleg, Pats«, sagte er wieder, in dem Bemühen, sie zu beschwichtigen. »Welcher Junge will schon, daß gleich die Mama angerannt kommt, wenn er eine Erkältung hat? Er geniert sich doch höchstens zu Tode, meinst du nicht, wenn du da angetanzt kommst, als wär er noch ein kleines Kind, dem du die Windeln wechseln mußt.«
    »Soll das heißen, daß ich nichts tun soll?« Patsy drohte ihm mit der Handtasche, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Als ob mich das Wohlergehen unseres Jungen nicht interessierte?«
    »Nein, das meinte ich nicht.«
    »Was dann?«
    Kevin faltete seinen Polierlappen zu einem sauberen, kleinen Quadrat. »Laß uns doch erst mal überlegen. Was hat die Schwester auf der Krankenstation gesagt? Was fehlt dem Jungen?«
    Patsy senkte die Lider. Kevin wußte, was die Reaktion zu bedeuten hatte. Er lachte leise.
    »Auf der Krankenstation ist immer eine Schwester, Patsy, und du hast nicht mit ihr gesprochen? Mattie hat sich die große Zehe angeschlagen, und Mama saust nach West Sussex, ohne vorher nachzufragen, was dem Jungen fehlt? Also hör mal, was ist denn in dich gefahren?«
    Heiße Röte der Verlegenheit breitete sich von Patsys Hals zu ihrem Gesicht aus. »Ich ruf jetzt an«, sagte sie, so würdevoll ihr das möglich war, und ging in die Küche, um von dort aus zu telefonieren.
    Kevin hörte, wie sie wählte. Einen Augenblick später vernahm er ihre Stimme. Dann hörte er, wie sie den Hörer fallenließ. Sie schrie einmal laut auf. Es war ein schrecklicher Schrei der Klage, ein flehentlicher Ruf nach ihm. Er warf seinen Lappen weg und rannte ins Haus.
    Im ersten Moment glaubte er, Patsy hätte einen Anfall. Ihr Gesicht war grau, und die zusammengekniffenen Lippen schienen darauf hinzuweisen, daß sie mit äußerster Willenskraft Schmerzensschreie unterdrückte. Als sie beim Klang seiner Schritte den Blick hob, sah er wilde Verzweiflung in ihren Augen.
    »Er ist nicht dort. Mattie ist verschwunden, Kevin. Er war nicht auf der Krankenstation. Er ist überhaupt nicht in der Schule.«
    Kevin hatte Mühe, das Entsetzliche zu begreifen, das diese wenigen Worte beinhalteten. Er konnte nur Patsys Worte wiederholen. »Mattie - verschwunden?«
    Sie schien wie erstarrt. »Seit Freitag mittag.«
    Die ungeheure Zeitspanne von Freitag bis Sonntag füllte sich auf einen Schlag mit jenen unbeschreiblichen Bildern, denen sich alle Eltern ausgesetzt sehen, wenn sie die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß ihr Kind vermißt ist. Entführung, Vergewaltigung, religiöse Sekten, Kinderhandel, Sadismus, Mord. Patsy zitterte und würgte. Ihre Haut überzog sich mit einem Schweißfilm.
    Kevin, der Angst hatte, sie würde ohnmächtig werden oder auf der Stelle tot umfallen, faßte sie bei den Schultern, um ihr den einzigen Trost zu spenden, der ihm zur Verfügung stand.
    »Wir fahren sofort zur Schule, Patsy«, sagte er eindringlich. »Wir kümmern uns um unseren Jungen. Darauf kannst du dich verlassen. Wir fahren sofort los.«
    »Mattie!« Es klang wie ein Stoßgebet.
    Kevin versuchte sich einzureden, daß Gebete überflüssig seien, daß Matthew nur schwänze, daß es für seine Abwesenheit von der Schule eine simple Erklärung gebe, über die sie später einmal gemeinsam lachen würden. Noch während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, begann Patsy heftig zu zittern und stieß noch einmal flehend den Namen ihres Sohnes aus. Kevin ertappte sich dabei, daß er wider alle Vernunft hoffte, es gebe irgendwo einen Gott, der seine Frau hörte.

    Sergeant Barbara Havers von der Kriminalpolizei ging ihren Beitrag zu dem gemeinsamen Bericht ein letztes Mal durch und war zufrieden mit den Ergebnissen ihrer Wochenendarbeit. Sie klammerte die fünfzehn mühselig erarbeiteten Seiten zusammen, stand von ihrem Schreibtisch auf und machte sich auf die Suche nach
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