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02 - Keiner werfe den ersten Stein

02 - Keiner werfe den ersten Stein

Titel: 02 - Keiner werfe den ersten Stein
Autoren: Elizabeth George
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geschenkt. Dann fühlen wir uns frei. Selbst wenn wir schwer an ihr tragen.«
    »Ich kann mir denken, daß Joy Sinclair das verstanden hat.«
    »O ja. Sie war der einzige Mensch in meinem Leben, der es verstanden hat.« Er nahm die Hand vom Fenster. »Dafür schulde ich ihr diesen Bericht über die Rintouls. Sie hätte ihn gewünscht. Sie hätte die Wahrheit gewünscht.«
    Lynley schüttelte den Kopf. »Sie wollte Rache, Mr. Vinney. Und ich denke, die hat sie bekommen. In einer Weise.«
    »Und dabei wollen Sie es bewenden lassen? Können Sie das wirklich, Inspector? Nach dem, was diese Leute Ihnen angetan haben?« Er wies mit einer Hand auf das Gebäude hinter ihnen.
    »Vieles tun wir uns selber an«, entgegnete Lynley. Er nickte, kurbelte das Fenster hoch und fuhr davon.

    Er erinnerte die Fahrt nach Skye später nur als ein fließendes Gemälde ständig wechselnder Landschaften, die er in seinem blinden Streben nach Norden kaum wahrnahm. Er machte nur halt, um zu essen und zu tanken, und einmal, irgendwo zwischen Carlisle und Glasgow, um sich in einem Rasthaus einige Stunden Ruhe zu gönnen. Am späten Nachmittag des folgenden Tages erreichte er Kyle of Lochalsh, ein kleines Dorf auf dem Festland gegenüber der Insel Skye.
    Er fuhr auf den Parkplatz eines Hotels direkt am Strand und blieb im Wagen sitzen, um auf das Wasser hinauszublicken, dessen gekräuselte Fläche wie altes Gold blitzte. Die Sonne stand schon sehr tief, und der Gipfel des majestätischen Sgurr na Coinnich drüben auf der Insel sah aus wie mit Silber übergossen. Tief unten an seinem Fuß stampfte die Autofähre aus dem Hafen und glitt langsam aufs Meer hinaus, dem Festland entgegen. Sie trug nur einen Lastwagen, zwei mit Rucksäcken bepackte Wanderer, die einander eng umschlungen hielten, um sich gegen die Kälte zu schützen, und eine einsame Gestalt, schlank und kerzengerade, mit kastanienbraunem Haar, das der Wind ihr ins Gesicht blies.
    Bei Helens Anblick erkannte Lynley mit einem Schlag den Wahnsinn seines Handelns. Er wußte, daß er der letzte war, den sie sehen wollte. Er wußte, daß sie dieses Alleinsein wünschte. Aber das alles trat in den Hintergrund, als die Fähre näher kam, und er bemerkte, daß ihr Blick sich auf den Bentley richtete, der auf dem Parkplatz über ihr stand. Er stieg aus, zog seinen Mantel über und ging zum Landungssteg hinunter. Der Wind blies ihm eisig ins Gesicht, und auf den Lippen schmeckte er das Salz des Atlantiks.
    Als die Fähre anlegte, heulte der Motor des Lastwagens auf, und das Fahrzeug polterte, eine übelriechende Rauchfahne hinter sich herziehend, die Straße nach Invergarry hinunter. Arm in Arm gingen die Wandervögel an Lynley vorüber, ein Mann und eine Frau, mit fröhlichen Gesichtern. Einmal blieben sie stehen, um sich zu küssen und dann nachdenklich noch einmal zur Insel hinüberzublicken. Die rauchgrauen Wolken über ihr begannen sich im letzten Licht der untergehenden Sonne rosig zu färben.
    Auf der Fahrt nach Norden hatte Lynley viele Stunden Zeit gehabt, sich zu überlegen, was er Helen sagen würde. Aber als sie jetzt von der Fähre kam, sich entschieden das Haar aus dem Gesicht strich, wußte er nichts mehr zu sagen. Er hatte nur den Wunsch, sie in seine Arme zu nehmen, und wußte doch, daß er kein Recht dazu hatte. So ging er statt dessen wortlos an ihrer Seite den Hügel hinauf zum Hotel.
    Das Foyer war leer. Die großen Fenster gaben den Blick auf Wasser und Berge und die abendlich glühenden Wolken über der Insel frei. Zu einem dieser Fenster ging Helen und blieb davor stehen, und obwohl ihre Haltung - der leicht gesenkte Kopf, der gerade, abweisend wirkende Rücken - an ihrem Wunsch nach Alleinsein keinen Zweifel ließ, brachte Lynley es nicht über sich zu gehen, da so vieles zwischen ihnen unausgesprochen war. Als er neben sie trat, sah er die Schatten unter ihren Augen, Spuren des Schmerzes und der Müdigkeit. Sie hatte die Arme über der Brust gekreuzt, als brauche sie Wärme und Schutz.
    »Warum, um alles in der Welt, hat er Gowan getötet? Das erscheint mir von allem das Sinnloseste, Tommy.«
    Lynley begriff nicht, wie er auch nur einen Moment hatte glauben können, daß gerade Helen ihn mit dem Schwall von Vorwürfen empfangen würde, die er so gründlich verdient hatte. Er war darauf vorbereitet gewesen, sie ruhig anzuhören, zuzugeben, daß sie berechtigt waren. Irgendwann in den letzten Tagen hatte er offenbar vergessen, daß Menschlichkeit und die Fähigkeit zur
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