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Ziemlich beste Freunde

Ziemlich beste Freunde

Titel: Ziemlich beste Freunde
Autoren: Phillipe Pozzo di Borgo
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Erst viele Jahre später, als er ein paar Zentimeter größer ist als ich, verpasst er mir eine Abreibung, mit der er allerdings nur einen Teil seiner Frustrationen abbauen kann.
     
    *
     
    Heute schiebt er mich, und ich sitze mit gekrümmtem Rücken im Rollstuhl.
    Alle überragen mich. Ich weigere mich, den Kopf zu heben.
     
    *
     
    In Trinidad verbringen wir den Großteil unserer Zeit am Strand, im selben Aufzug wie die Einheimischen, mit denen wir den ganzen Tag zusammen im Wasser spielen. Wir verständigen uns in Pidgin English , bevor wir überhaupt Französisch können. Abends in unserem Zimmer liefern wir uns Kämpfe. Ich erinnere mich noch gut an ein Spiel, das darin bestand auf dem eigenen Bett herumzuhüpfen und dabei auf das des anderen zu pinkeln.
     
    Danach kommt Nordafrika: Algerien und Marokko. Wir machen Bekanntschaft mit der Schule und lernen bei einem schüchternen Fräulein undefinierbaren Alters Französisch. Eines Tages, es herrscht starker Wind und ich klammere mich an einen Telegraphenmast, sehe ich meinen schmächtigen Bruder davonfliegen. Mademoiselle hängt sich an ihn und versucht ihn festzuhalten, doch ohne Erfolg. Erst das Tor hält sie beide auf.
    Zum ersten Mal verspüre ich einen Stich der Eifersucht auf meinen Zwillingsbruder, der die Aufmerksamkeit der Damenwelt erregt.
     
    *
     
    Etwas über einen Meter achtzig, fünfzig Kilo leblose Masse und der bleierne Rest, mehr ist nicht von mir übrig. Außer Betrieb!
     
    *
     
    Reynier distanziert sich von uns. Bald heißt es: »die Zwillinge gegen Big Fat, den Brutalo«. Er nimmt seine Pflichten als älterer Bruder ernst und zögert nicht, seine Körpergröße auszunutzen und uns mit seinen kräftigen Händen zu verprügeln, wenn er der Meinung ist, dass es unsere Erziehung erfordert.
     
    *
     
    Heute könnte ich höchstens schreien, wenn jemand meine Lähmung ausnutzen wollte, aber nicht schlagen.
     
    *
     
    Auf Marokko folgt London. Diesmal heißt die Nanny Nancy. Mir fällt auf, wie Reynier um die schöne Brünette herumscharwenzelt. Hinter dem Rücken meiner Eltern legt er sich zu ihr ins Bett, und ich höre ihn vor Vergnügen glucksen. Ich versuche alles, um ebenfalls in Nancys Bett zu gelangen, ohne genau zu wissen, warum. Einmal setze ich mich sogar längere Zeit auf einen glühend heißen Heizkörper, um Fieber vorzutäuschen, in der Hoffnung, dass Nancy sich meiner annimmt und ich vielleicht gar in ihrem Bett lande … Mein feuerroter Hintern verrät mich. Ich muss den Versuch aufgeben. Meine Wangen sind so rot wie meine Pobacken.
     
    *
     
    Ich vermisse die Empfindungen, die mir meine Grenzen spürbar machten. Dieser Körper mit seinen ungewissen Konturen gehört mir nicht mehr.
    Heute berührt mich die Hand nicht mehr, die mich liebkost. Doch in dem allgegenwärtigen Brennen bewegen mich diese Bilder immer noch.
     
    9 Der sogenannte Nacht-und-Nebel-Erlass war ein »Führererlass« des Deutschen Reiches, verordnet am 7. Dezember 1941. Rund 7000 des Widerstands verdächtige Personen aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Norwegen wurden entweder sofort zum Tode verurteilt und hingerichtet oder nach Deutschland verschleppt und dort in Haft behalten, ohne dass die Angehörigen irgendwelche Auskünfte erhielten. Ihr spurloses Verschwinden diente der Einschüchterung und Abschreckung.
     
    10 1974 bei Éditions Grasset erschienen.

… mit einem silbernen Löffel im Mund
    Als ich acht bin, werde ich zusammen mit meinen beiden Brüdern in Grannys Pariser Salon beordert. Sie ist eine große Geigerin, hat ihr Talent jedoch nach der Hochzeit nicht mehr voll entfalten können, da Herzog Joe wenig Gefallen an dem »Krach« findet. Sie besitzt eine kleine Geige und einen Steinway, der den Ballsaal beherrscht. Reynier, Alain und ich gehen zusammen zu ihr. Mich fasziniert der riesige schwarze Flügel, den reklamiere ich für mich. Alain bestaunt die Komplexität der winzigen Geige. Reynier entdeckt keine weiteren verfügbaren Instrumente und kehrt der Musik den Rücken, was ihm unzählige Gelegenheiten bieten wird, sich lautstark über uns lustig zu machen, wenn Alain und ich versuchen, zusammen zu musizieren. Mir wird klar, wie mühsam öffentliche Auftritte sein können. Noch lebhaft erinnere ich mich an die grenzenlose Demütigung bei einem Konzert in Alains Internat. Ich begleite ihn bei einer Sonatine von Beethoven. Alain beginnt auf der einen Seite der Bühne zu spielen, am Ende des Stückes haben ihn die lauten Buhrufe
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