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Zeitoun (German Edition)

Zeitoun (German Edition)

Titel: Zeitoun (German Edition)
Autoren: Dave Eggers
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Bewunderern zuwinkten, dachte er, Wenigstens singen sie nicht. Während er sich ein Glas Orangensaft eingoss, beobachtete er die Mädchen verwundert. In Syrien war er mit sieben Schwestern aufgewachsen, aber keine von ihnen hatte einen solchen Hang zur Theatralik gehabt. Seine Töchter waren verspielt und voller Sehnsucht, tanzten immerzu durchs Haus, sprangen von Bett zu Bett, sangen mit gespieltem Vibrato, fielen gekonnt in Ohnmacht. Das war zweifellos Kathys Einfluss. Im Grunde war sie eine von ihnen, fröhlich und mädchenhaft von ihrer Art und ihren Vorlieben her – Videospiele, Harry Potter, die unbegreifliche Popmusik, die sie sich anhörten. Er wusste, dass Kathy fest entschlossen war, ihnen die unbekümmerte Kindheit zu bieten, die sie nicht gehabt hatte.
    »Mehr isst du nicht?«, sagte Kathy mit Blick auf ihren Mann, der sich gerade die Schuhe anzog, um zur Arbeit zu fahren. Er war ein durchschnittlich großer, kräftig gebauter Mann von siebenundvierzig, doch wie er es schaffte, sein Gewicht zu halten, war ein Rätsel. Er konnte aufs Frühstück verzichten, mittags nur eine Kleinigkeit essen und das Abendessen fast unberührt lassen, obwohl er zwölf Stunden am Tag ununterbrochen in Bewegung war, und dennoch schwankte sein Gewicht nie. Kathy wusste seit zehn Jahren, dass ihr Mann einer von diesen unerklärlich robusten, genügsamen und bedürfnislosen Männern war, die von Luft und Wasser leben konnten, unempfindlich gegen Verletzungen und Krankheiten – aber sie fragte sich noch immer, woher er die Kraft nahm. Jetzt ging er durch die Küche und gab jedem Mädchen einen Kuss auf den Kopf.
    »Vergiss dein Handy nicht«, sagte Kathy, die es auf der Mikrowelle erspäht hatte.
    »Wieso sollte ich?«, fragte er und steckte es ein.
    »Du vergisst also nie etwas?«
    »Genau.«
    »Du behauptest allen Ernstes, dass du nie etwas vergisst?«
    »Ja. Das behaupte ich.«
    Doch kaum hatte er die Worte ausgesprochen, bemerkte er seinen Fehler.
    »Du hast dein erstgeborenes Kind vergessen!«, sagte Kathy. Er war schnurstracks in die Falle getappt. Die Kinder grinsten ihren Vater an. Sie kannten die Geschichte gut.
    Es war nicht fair, fand Zeitoun, dass ein einziger kleiner Fehler in elf Jahren seiner Frau genug Munition gab, um ihn für den Rest seines Lebens damit aufzuziehen. Zeitoun war kein vergesslicher Mensch, aber wann immer er doch mal etwas vergaß oder wenn Kathy beweisen wollte, dass er etwas vergessen hatte, musste sie ihn bloß daran erinnern, dass er einmal Nademah vergessen hatte. Denn das hatte er. Nur einen Moment lang, aber immerhin.
    Sie war am 4. August zur Welt gekommen, an Kathys und Zeitouns erstem Hochzeitstag. Es war eine anstrengende Geburt gewesen. Als sie am nächsten Tag nach Hause kamen, half Zeitoun Kathy aus dem Wagen, schloss die Beifahrertür und nahm dann Nademah in ihrer Babyschale aus dem Auto. Er trug die Kleine in der einen Hand, mit der anderen hielt er Kathys Arm. Die Treppe zu ihrer Wohnung im ersten Stock führte gleich hinter der Haustür nach oben, und Kathy brauchte Hilfe, um sie hochzukommen. Also half Zeitoun einer stöhnenden und ächzenden Kathy die steilen Stufen hinauf. Sie erreichten das Schlafzimmer, wo Kathy sich aufs Bett fallen ließ und unter die Decke kroch. Sie war unsäglich erleichtert, wieder zu Hause zu sein, wo sie sich mit ihrem Kind entspannen konnte.
    »Gib sie mir«, sagte Kathy und hob die Arme.
    Zeitoun blickte auf seine Frau hinab, sprachlos, wie ätherisch schön sie aussah, die Haut strahlend, die Augen so müde. Dann hörte er, was sie gesagt hatte. Das Baby. Natürlich wollte sie das Baby. Er drehte sich um, wollte ihr das Baby geben, aber da war kein Baby. Das Baby war nicht zu seinen Füßen. Das Baby war nicht im Zimmer.
    »Wo ist sie?«, fragte Kathy.
    Zeitoun schnappte nach Luft. »Ich weiß nicht.«
    »Abdul, wo ist das Baby?«, sagte Kathy, jetzt lauter.
    Zeitoun gab einen Laut von sich, irgendwas zwischen einem Keuchen und einem Quieken, und stürzte aus dem Zimmer. Er lief die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus. Er sah die Babyschale auf dem Rasen stehen. Er hatte das Baby im Vorgarten vergessen. Er hatte das Baby im Vorgarten vergessen. Die Babyschale stand mit der Vorderseite zur Straße. Er konnte Nademahs Gesicht nicht sehen. Er packte den Griff, fürchtete schon das Schlimmste, dass irgendjemand sie genommen und die Babyschale zurückgelassen hatte, doch als er die Schale zu sich umdrehte, sah er das winzige rosige Gesicht von
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