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Zeit für mich und Zeit für dich

Zeit für mich und Zeit für dich

Titel: Zeit für mich und Zeit für dich
Autoren: Fabio Volo
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Da ist die fehlende Fliese im Bad, das Loch unter dem Waschbecken, durch das man die Rohre sehen kann, das Stück Furnier, das von der Ecke des Küchenschranks abgesplittert ist. Die Schublade, die herausfällt, wenn du sie aufziehen willst. Die Schranktür, die nur schließt, wenn du sie anhebst. Die Steckdosen, die lose runterbaumeln, weil sie jedes Mal, wenn du den Stecker ziehst, mit aus der Wand kommen. Die Tapete, die sich an den Stoßkanten löst. Der feuchte Fleck in der Küche, über dem sich der Anstrich so einladend wölbt, dass du dich zusammenreißen musst, um keine Leiter zu holen, hinaufzuklettern und die Blase zum Platzen zu bringen. Die Stühle, die aus dem Leim gehen und das Sitzen zum Wagnis machen.
    Es ist eine Armut, in der Kleber und Tesa die Dinge [16]  zusammenhalten, in der man eine ganze Schublade voller Handwerkszeug braucht, um eine Wirklichkeit zu flicken, die überall bröckelt. Alles ist wackelig und provisorisch und wartet auf bessere Zeiten und hält doch ein Leben lang.
    Als ich meinen Vater das erste Mal sagen hörte: »Ich bin ein Versager«, konnte ich nicht wissen, was ein Versager ist. Ich war noch zu klein. Ein paar Männer waren gekommen und hatten Sachen aus der Bar mitgenommen. »Pfändung« war das andere Wort, das ich damals lernte. Von da an stellte ich keine Fragen mehr, wenn Unbekannte in die Bar oder zu uns nach Hause kamen und Sachen mitnahmen. Ich wusste zwar nicht, was genau da vor sich ging, aber ich kapierte es doch. Als Kind lernt man schnell. Deshalb begriff ich auch, dass das Auto meines Vaters dieser Männer wegen auf den Namen meines Großvaters mütterlicherseits lief. So hieß das: »Auf den Namen eines anderen laufen« – ich kannte den Ausdruck nicht, aber ich begriff alles.
    Ich wuchs heran und sah, wie mein Vater sich krumm schuftete, um den Problemen gewachsen zu sein. Tagein, tagaus arbeitete er in der Bar, auch wenn er krank war. Selbst sonntags, wenn geschlossen war, verbrachte er einen Großteil des Tages bei der Arbeit, machte die Bestellungen, schaffte Ordnung, putzte, besserte aus.
    Nicht ein einziges Mal bin ich mit meinen Eltern in die Ferien gefahren. Im Sommer wurde ich bei meinen Großeltern mütterlicherseits abgeliefert, die jeweils für ein paar Wochen ein Haus in den Bergen mieteten.
    Sonntags kam meine Mutter mich dort besuchen, [17]  allein, und überbrachte mir Grüße von meinem Vater. Es gibt kein einziges Foto von uns dreien vor einer Sehenswürdigkeit. Für gemeinsame Ferien war kein Geld da.
    Geld… Ich kriegte mit, wie mein Vater es sich bei allen möglichen Leuten borgte. Bei Verwandten, Freunden, Nachbarn. Wie er sich demütigte und gedemütigt wurde. Oft begleitete ich ihn als Kind zu irgendwelchen Freunden, Leuten, die ich nicht kannte. Ich musste dann in der Küche warten, während er mit dem Freund ins Nebenzimmer ging, um etwas »zu regeln«. Wenn die unbekannte Hausfrau, in deren Gesellschaft ich warten musste, mich fragte, ob ich etwas essen oder trinken wollte, sagte ich immer nein. Überhaupt sprach ich nicht viel, ich fühlte mich immer unbehaglich, alle kamen mir vor wie Riesen. Meinem Vater ging es vermutlich genauso.
    Alle bat er um Geld, wirklich alle. Selbst mich, als ich noch klein war. Einmal kam er zu mir ins Zimmer – ich hatte Fieber, und es ging mir schlecht, aber ich war trotzdem glücklich, weil meine Mutter gesagt hatte, das Fieber komme daher, dass ich am Wachsen sei.
    »Papa, wenn ich wieder gesund bin, bin ich ein ganzes Stück größer, weißt du? Ob ich mal so groß werde wie du?«
    »Na klar, sogar noch größer.«
    Als er ging, nahm er meine Spardose, ein rotes Nilpferd, mit. Er werde das Geld zur Bank bringen, sagte er, und wenn ich es irgendwann wiederhaben wolle, werde es mehr geworden sein. Damit kriegte er mich rum.
    Mit der Zeit kam ich dahinter, was tatsächlich mit dem [18]  Inhalt meiner Spardose passiert war, und ich fühlte mich belogen und betrogen. Ich lernte früh, Erwachsenen nicht zu trauen, und verbarg meine Verletzlichkeit hinter gespielter Stärke. Ich hatte niemanden an meiner Seite, der Stärke ausgestrahlt und mir das Gefühl gegeben hätte, beschützt und in Sicherheit zu sein. Viele Menschen müssen im Lauf ihres Lebens einsehen, dass der übermächtige Vater gar nicht so mächtig ist. Ich wusste das schon als Kind. Auch ich hätte meinen Vater gern für unbesiegbar gehalten, aber diese Illusion zerbrach früh.
    Mein Vater schuftete und schuftete. Ich erinnere mich,
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