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Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Titel: Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)
Autoren: Michael Hagner
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denen der Erdball in den letzten vier Jahrzehnten heimgesucht worden war. Zugleich war es die Gelegenheit für einen ungewöhnlich populären Podcast (eine kuriose und längst veraltete Form der Kommunikation, die nur in Universitätskreisen der tiefsten Provinz überlebt hatte).
    Niemand hätte erwartet, daß eine unbekannte, auf die Geschichte der antiken Philosophie spezialisierte Professorin – also eine der inzwischen sehr selten gewordenen Vertreterinnen dieses offenbar unnützen Fachgebietes – ein dermaßen großes Publikum ansprechen könnte, aber irgendwie fanden ihre Worte ein günstiges Echo. Natürlich fanden sich in den Diskussionsforen dieser Welt seit Jahrzehnten zahlreiche Beschuldigungen, die gegen jene Wähler des frühen 21 . Jahrhunderts erhoben wurden, die immer wieder für Politiker gestimmt hatten, die schworen, das Gerede von der anthropogenen Erderwärmung sei eine Ente, oder die später gelobten, das Problem könne angegangen werden, ohne an den herkömmlichen Mustern des Energieverbrauchs etwas zu ändern. Vor allem in den Katastrophengebieten und in den Flüchtlingslagern hatten die Überlebenden voller Zorn über die gräßliche Verantwortungslosigkeit debattiert, die die Klimakrise letztlich verschuldet hatte. Auf diese Frage ging unsere Professorin zwar nicht ein, aber sie wies überzeugend darauf hin, daß eine Katastrophe dieser Art von einem Denker der Antike vorhergesagt worden war.
    Schon der Anfang des Podcasts klang ein wenig skurril, denn im ersten Satz gebrauchte die Professorin eine längst ausgestorbene Form des Konjunktivs:
    »Lebte Platon heute, so fiele es ihm schwer, den Ausruf ›Ich habe es euch gesagt!‹ zu unterdrücken. 2 Abgesehen davon, daß er sich von Demokratie ein anderes Bild machte als wir heute – und daß er unser System als eine eigenartige Form von Oligarchie aufgefaßt hätte –, lautet eine seiner zentralen Aussagen: Das Geschäft des Regierens ist zu schwierig, um es den Unwissenden zu überlassen. Wenn man jenen, die von wichtigen Dingen keine Ahnung haben, gestattet, auch nur den geringsten Einfluß auf die Politik zu nehmen, bestehe die ernsthafte Gefahr, daß törichte Handlungen vollzogen oder notwendige Handlungen unterlassen werden. Die sogenannten demokratischen Gesellschaften seien Katastrophen, die der Verwirklichung harren, und im 21 . Jahrhundert ist das Unheil schließlich in ganz großem Maßstab ausgebrochen. Die Ratschläge der Experten wurden selbst dann, wenn sie laut und eindringlich erteilt wurden, in den Wind geschlagen. Opfer, die dringend notwendig waren, wurden nicht gebracht. Unser Festhalten an einem verfehlten politischen System führte zur irreversiblen Veränderung des einen Planeten, den wir haben, und zum Tod von über einer Milliarde Menschen – ganz zu schweigen davon, daß weitere Milliarden dazu verdammt wurden, ein Leben in Not und Elend zu führen.«
    Im Zuge ihrer weiteren Ausführungen nannte die Professorin noch einige akademische Einzelheiten, doch es war dieser Anfang ihrer Rede, der trotz des ungeschickten und antiquierten Stils im Bewußtsein des großen Publikums nachhallte. Jetzt war endlich klar, was schiefgelaufen war: Unsere Spezies bezahlte den Preis dafür, daß sie sich dermaßen für einen politischen Fetisch begeistert und zwanghaft an der Demokratie festgehalten hatte.

    2.
    Vielleicht kommt es nicht so schlimm, wie meine Geschichte nahelegt, aber möglicherweise geschieht noch größeres Unheil. Unter den Klimaexperten besteht Konsens, daß wir, sofern nichts unternommen wird, bestenfalls auf eine Erhöhung der Durchschnittstemperatur der Erde bis zum Ende des Jahrhunderts um zwei bis drei Grad Celsius hoffen können. 3 Eine wirklich pessimistische Einschätzung ginge von sechs bis sieben Grad aus. Die Zahl, die ich mir ausgedacht habe, liegt ungefähr in der Mitte des Intervalls. Selbst wenn der Anstieg am unteren Ende der Skala läge, würde der ansteigende Meeresspiegel tiefliegende Inseln und Küstengebiete verschlucken, beispielsweise die Malediven und den Golf von Bengalen. Die italienische Wüste ist da eher eine Mutmaßung, und es könnte sein, daß die bella campagna sogar bei einem Temperaturanstieg von fünf Grad diesem schrecklichen Schicksal entgeht, falls es in der Entwicklung der Wettermuster zu einigen (freilich unwahrscheinlichen) Veränderungen kommt. Dieser Temperaturanstieg würde mit hoher Gewißheit das kalifornische Längstal überschwemmen und so dafür sorgen, daß
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