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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit
Autoren: Uwe Anton
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    Wie ich vor vielen Jahren nach der Beerdigung meines Freundes erkannt habe, leben wir alle im Bewußtsein der Menschen weiter, die während ihres Lebens unsere Gegenwart verspürt haben. Ich meine damit nicht einfach, daß sie sich an uns erinnern – vielleicht vergessen sie uns ja auch – sondern, daß ein lebendiger Teil von mir nun von mir getrennt existiert, genau, wie ich selbst zum Teil aus der Energie und der lebendigen Gegenwart vieler anderer Menschen bestehe.
    Jorge Luis Borges schrieb 1951 einen kurzen Essay mit dem Titel ›Kafka und seine Vorläufer‹. Darin fand er Kafkas Stimme in einzelnen Werken verschiedener früherer Schriftsteller wieder, darunter Zeno, Han Yu, Kierkegaard und Browning, und stellt fest, daß all diese Schriften zwar Kafkas Werken, einander aber überhaupt nicht ähnlich sind. »Dieser Tatbestand ist von Bedeutung. Kafkas charakteristische Eigenarten sind mehr oder weniger in jeder dieser Schriften gegenwärtig, doch dies würden wir nicht wahrnehmen, wenn Kafka nicht geschrieben hätte. Es würde diese Idiosynkrasie dann nicht geben … Also schafft sich jeder Schriftsteller seine Vorläufer. Sein Werk verändert unsere Auffassung von der Vergangenheit, wie es auch die von der Zukunft verändern wird.«
    Wie Kafka ist auch Dick ein Schriftsteller, dessen Wahrnehmung der Wirklichkeit ganz typisch für ihn ist und der gleichzeitig in seinen Lesern solch ein Gefühl der Vertrautheit erzeugt, daß sein Name in immer stärkerem Maße zu einem veranschaulichenden Adjektiv werden wird, das zweifelsfrei auf einen gewissen Aspekt der zeitgenössischen (wie auch literarischen) Wirklichkeit hinweist oder ihn beschreibt. Im deutschen Sprachraum werden gewisse Situationen, die sich zumeist auf eine Person beziehen, die in irgendeinem bürokratischen Alptraum gefangen ist, als ›kafkaesk‹ bezeichnet. Dieser Ausdruck wird auch von Leuten benutzt, die Kafka gar nicht gelesen haben. Zumindest in Science Fiction-Kreisen kann man ähnlich von gewissen dickesken Situationen sprechen, besonders, wenn die Wirklichkeit – vielleicht wegen einer nicht wahrnehmbaren Manipulation von außen – als sich ständig verändernd wahrgenommen wird, und jeder weiß, was gemeint ist. Man könnte sagen, daß es beiden Autoren gelungen ist, einer jeweils bestimmten Art von Wirklichkeit, die man für immer mit seinem Namen assoziieren wird, seinen Stempel aufzudrücken, als wäre er der Entdecker einer bestimmten Insel oder eines bestimmten psychiatrischen Heilverfahrens.
    Die Stories, die hier zusammengetragen wurden, stellen eine Erkundung dieser modernen dickesken Wirklichkeit dar, in der wir leben. Nur eine wurde von Philip K. Dick selbst verfaßt, doch er ist nichtsdestoweniger in ihnen gegenwärtig. Ein Teil von ihm lebt in diesem Buch weiter; wie Borges es ausgedrückt hat, haben seine besonderen Charakteristiken ihn überlebt und werden sich vielleicht als unsterblich erweisen.
    »Wichtig ist mir das Schreiben selbst«, erklärte Dick 1968 in einem Aufsatz, »das Erzeugen eines Romans, denn in dem Augenblick, in dem ich ihn schreibe, befinde ich mich in der Welt, über die ich schreibe. Sie ist für mich voll und ganz real. Wenn ich diesen Roman dann abgeschlossen habe und aufhören, mich für immer von ihm zurückziehen muß … das macht mir zu schaffen. Die Männer und Frauen haben zu sprechen aufgehört. Sie bewegen sich nicht mehr. Ich bin allein.
    Wo ist Mr. Tagomi, der Protagonist von DAS ORAKEL VOM BERGE? Er hat mich verlassen; wir wurden voneinander getrennt. Wenn ich den Roman noch einmal lese, bekomme ich Mr. Tagomi nicht zurück, spricht er nicht noch einmal zu mir. Sobald der Roman erst geschrieben ist, wendet er sich an alle Leser und nicht mehr allein an mich.
    Und ich verspreche mir: ich werde nie wieder einen Roman schreiben. Ich werde mir nie wieder Menschen einfallen lassen, von denen ich schließlich getrennt werden werde. Ich verspreche es mir … und insgeheim und verstohlen fange ich mit einem neuen Buch an.«
    Paul Williams,
    Nachlaßverwalter der Erben von Philip K. Dick
    Glen Ellen Kalifornien
     
    Copyright © 1990 by Paul Williams
    Copyright © 1990 der deutschen Übersetzung
    by Wilhelm Heyne Verlag, München
    Aus dem Amerikanischen übersetzt von Uwe Anton

 
Uwe Anton
Willkommen in der Wirklichkeit
     
    Die ganze Zeit über, während der Zug mit monotonem Rattern die weite Ebene überquerte, dämmerte Kendrick in einem unruhigen Halbschlaf vor sich hin. Erst
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