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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor
Autoren: Jan Stressenreuter
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Zifferblatt. Daraufhin bewegt sich der Sekundenzeiger überhaupt nicht mehr.
    „Ein bisschen Kleingeld vielleicht oder eine Zigarette?“
    „Nichtraucher“, murmelt Arne. Zu seiner eigenen Überraschung fahndet er in der Hosentasche nach Münzen, einen Moment später hat er dem Obdachlosen sechzig Cent auf den Teller gelegt.
    „Schönen Tag noch“, nickt der Mann und tippt sich grüßend an die Stirn.
    Arne läuft weiter Richtung Rhein, Richtung Altstadt, und kurz darauf steht er vor der Parkbank, auf der er Philip kennengelernt hat. Irgendwie hatte er gehofft … aber die Bank ist leer, der Junge ist nicht da. Natürlich nicht. Vielleicht, wenn er die Stricherkneipen in der Nähe abklappert? Arne weiß nur vage über sie Bescheid, kennt einige der Namen und ihre Standorte, aber als er sie aufsucht, hat nur eine geöffnet, in einer heruntergekommenen, krummen Seitenstraße. Müll liegt auf dem Bürgersteig; es riecht nach Katzenpisse.
    Misstrauen schlägt ihm entgegen, als er die Tür öffnet, abgestandene Luft, die nach Rauch und Bier riecht. Drei ältere Männer sitzen an der Bar, mit grauen Gesichtern und müden Augen, im Hintergrund läuft ein Lied von Lady Gaga. Zwei junge Männer beugen sich über ein Handy, um die Handgelenke protzige Uhren geschnallt, auf der Brust baumeln dicke silberne Ketten.
    „Kennt ihr Philip?“, fragt Arne vorsichtig und weiß schon im Voraus, dass er keine Antwort bekommen wird. Die Stricher werfen ihm nur einen kurzen Blick zu, dann wenden sie sich wieder ab, ignorieren seine Anwesenheit.
    Einer der alten Männer wackelt mit dem Kopf. „Kein Philip hier.“ Dann fängt er heiser an zu lachen, ohne Arne anzusehen. Als kenne er sein Verlangen. Als wüsste er, wonach Arne sucht. Arne macht einen Schritt auf ihn zu, will richtigstellen, erklären, den falschen Eindruck zurechtrücken, aber dann zuckt er mit den Schultern und geht.
    Wieder auf der Straße schaut er sich unschlüssig um. Wo sonst kann er noch suchen? Er kramt in seinem Gedächtnis nach einer beiläufigen Bemerkung Philips in der Vergangenheit, einem Nebensatz, der ihm weiterhelfen könnte, einer Andeutung, aber da ist nichts. Der Junge war sehr umsichtig, hat alle Auskünfte vermieden, die auf seinen Aufenthaltsort hätten schließen lassen können. Als ob er nicht gefunden werden wollte.
    Um die Ecke gibt es ein paar Spielhöllen, Läden, die rund um die Uhr geöffnet sind und einen zwielichtigen Ruf haben. Es ist die letzte Möglichkeit. Hier geht man nicht hin, wenn man keinen Ärger haben will, heißt es. Hier läuft man Gefahr, abgezockt, beraubt oder verprügelt zu werden. Oder alles zusammen.
    Ein Junge in Philips Alter mit südländischem oder arabischem Aussehen steht vor dem dunklen Eingang und raucht, schnalzt leise mit der Zunge, als Arne die fremde Welt betritt und jeden Augenkontakt tunlichst vermeidet. Geräusche von Spielautomaten empfangen ihn, ein Piepen und Bimmeln, gedämpfte Schussgeräusche und schummriges Licht, an das sich seine Augen nur mit Mühe gewöhnen. Halbdunkel und Schatten, blitzende Lampen an einem Flipperautomaten, an dem noch jemand in Philips Alter steht, der ihn auslotet, einschätzt, berechnet. Diesmal starrt Arne zurück, mehr aus Versehen, unabsichtlich, vielleicht auch ein wenig neidisch. Sie sind alle so jung, diese Männer, aber ihre Blicke glänzen kalt. Ihre Körper mögen einladend wirken, aber die Augen erzählen von geballten Fäusten, von um sich schlagenden Armen, von unterdrückter Wut.
    „Ist was?“
    „Nein. Ich … tut mir leid.“ Arne fühlt sich eingeschüchtert, er ist hier nicht willkommen. Unwillkürlich geht seine Hand zu seiner Hintertasche, überprüft die Anwesenheit des Portemonnaies. Schnell sucht er die Ecken nach einem blonden Haarschopf unter einer Strickmütze ab, aber da ist niemand. Er ist umsonst gekommen.
    Schon will er seine Suche frustriert abbrechen, als er endlich eine Idee hat. Er schlägt sich vor die Stirn und eilt nach draußen, macht sich auf den Rückweg zu seinem Wagen. Natürlich! Warum ist er nicht schon vorher darauf gekommen? Philip ist ein Handy-Junkie; wie alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen, wie jeder Geschäftsmann, will er überall und jederzeit erreichbar sein. Arne erinnert sich, dass das Abrufen und Versenden von SMS für Philip eine reflexhafte Gewohnheit ist wie Zähneputzen oder das Drücken der Toilettenspülung.
    Auch wenn er nicht ans Telefon geht – vielleicht ist es möglich, sein Handy zu orten. Er
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