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Wie ein Flügelschlag

Wie ein Flügelschlag

Titel: Wie ein Flügelschlag
Autoren: Jutta Wilke
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Radio.
    Wilhelm verdrehte die Augen. »Unser Hitler«, äffte er den Minister durch zusammengepresste Lippen nach.
    »Unser Hitler«, echote Goebbels. Die ersten Klänge der Nationalhymne quollen aus dem Apparat, eingebettet in eine Geräuschkulisse aus Knacken und Rauschen.
    Leo und er standen am Fenster in Wilhelms riesigem Wohnzimmer
und blickten hinaus auf die Kurfürstenstraße. Hinter ihnen tickte die Standuhr. Von der Höhe des fünften Stockwerks
aus konnte man durch die ausgebrannten Dächer der gegenüberliegenden Häuserzeile in die gähnende Leere dahinter
blicken. Der ganze Straßenzug war bis auf wenige Ausnahmen
ein seelenloses Gerippe aus Ruinen, das von Brandschutzmauern
und Fassaden mehr schlecht als recht zusammengehalten
wurde. Die Brände hatten schwarze Schleier über den klaffenden Fenstern hinterlassen und die Sprengbomben alle Zwischendecken herausgerissen. An einigen Stellen waren ganze Häuser regelrecht pulverisiert worden. Die Schutthaufen
lagen wie die Ausläufer von Schneelawinen zwischen den noch stehenden Häusern auf dem Bürgersteig. Verbogene Heizungsrohre und Balken ragten in den Himmel. Es war fast niemand auf der Straße unterwegs.
    »Unser Hitler«, wiederholte Wilhelm verächtlich. »Dürfte sein letzter Geburtstag gewesen sein. Glückwunsch auch von uns.«
    »Warum hörst du dir das überhaupt an?«, fragte Leo.
    »Weil ich neugierig bin, wie groß der Abstand zwischen Wahn und Wirklichkeit noch werden kann.«
    »Wahn und Wirklichkeit«, murmelte Leo.
    »Ja.« Wilhelm kam in Fahrt. »Der Wahn ist ein Ballon, die Wirklichkeit der Boden. Verstehst du?«
    »Natürlich.«
    »Der Ballon steigt immer höher, weil sie immer mehr heiße Luft reinpusten. Und je höher der Ballon steigt, desto stärker spannt er sich, weil die Luft außen immer dünner wird. Und desto lauter wird der Knall, wenn der Ballon platzt. Sie wissen,
dass das passieren wird. Und trotzdem pusten sie immer weiter heiße Luft rein.«
    »Warum? Damit es lauter knallt?«
    »Ja. Und damit sie den Absturz auf den Boden der Wirklichkeit
auch bloß nicht überleben.«
    »Das glaub ich nicht. Jeder will doch überleben.«
    »Sicher. Die meisten warten auch nur auf den richtigen Moment, um mit dem Fallschirm auszusteigen. Den Letzten vernebelt die dünne Luft da oben offenbar den Verstand. Aber wer noch ein Fünkchen davon hat, der springt und rettet sich. Unser Reichsmarschall zum Beispiel. Der hat sich heute nach Bayern abgesetzt.«
    Leo schaute seinen dreißig Jahre älteren Freund an. »Woher weißt du so was immer?«
    Wilhelm lächelte dünn, ohne den Blick von der Straße abzuwenden.
»Glaub es mir. Göring ist auf dem Weg nach Berchtesgaden.
«
    Unwillkürlich stellte Leo sich Görings aufgedunsene Gestalt
vor, die schnaufend aus dem Korb eines Fesselballons kletterte.
    Wilhelm hatte den gleichen Gedanken. »Damit wäre der letzte nennenswerte Ballast von Bord. Und jetzt überleg mal, wie schnell der Ballon erst ohne den Dicken steigt!«
    Eine Weile lachten beide leise vor sich hin. Unten fuhren zwei Möbelwagen vor.
Spedition Knauer
stand in verblichenen Lettern auf den Planen. Die Fahrer rangierten eine Weile, bis die Laster quer auf der Straße standen. Auf eine Hauswand dahinter hatte jemand in weißen Druckbuchstaben »Siegen oder Sterben!« gepinselt. Der Schriftzug wurde zum Ende hin immer kleiner, weil der Abstand zum Hauseingang rechts davon offenbar falsch eingeschätzt worden war.
    »Und während sie oben in ihrem Ballon auf den großen Knall warten, treffen Wahn und Wirklichkeit hier unten schon aufeinander. Verstehst du, was ich meine?« Wilhelm zeigte auf den aufgemalten Schriftzug. »Früher standen Hunderttausend
Leute wie mit dem Lineal gezogen im Karree und schrien: ›Führer befiehl,
wir folgen!‹ Es war zum Kotzen. Aber man hat ihnen sofort geglaubt, dass sie die ganze Welt in Brand setzen.«
    »Und heute können sie keine drei Wörter mehr ordentlich an eine Wand pinseln. Und trotzdem soll man ihnen glauben, dass sie den Krieg gewinnen werden«, sagte Leo.
    »Genau. Und jetzt frage ich mich: Glaubt so einer wirklich, was er da schreibt?«
    »Vielleicht hat ihn jemand dazu gezwungen. Schreib das, sonst erschieß ich dich!«
    Wilhelm lachte spöttisch auf. »Genau das wird der mit dem Pinsel hinterher auch sagen: Ich hab doch nur geschrieben, was man mir befohlen hat! Aber weißt du, was? Es wäre nicht so weit gekommen, wenn nicht jede Menge Leute viel mehr getan hätten, als sie
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