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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht
Autoren: Mirjam Pressler
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erscheint Allach, das ist der Name, unter dem ich sie gespeichert habe, nicht unter Vater oder Mutter oder Zuhause, was man eigentlich erwarten könnte. Ich weiß, dass es meine Mutter ist, mein Vater hat mich noch nie von sich aus angerufen, und drücke sie gereizt weg. Es passt zu ihr, dass sie mich gerade dann anruft, wenn ich mit meinen Gedanken bei Omi bin, unser Verhältnis hat sie immer gestört. Wenn ich früher Omi erwähnte und auch nur so etwas sagte wie: Omi hat immer Majoran in die Kartoffelsuppe getan, dann hieß es sofort, du und deine Omi. Warum klang ihre Stimme dann so gekränkt? War sie etwa eifersüchtig? Eifersüchtig auf eine Tote?
    Plötzlich tut mir meine Mutter leid, ich drücke auf Allach . Sie hebt schnell ab, zu schnell, es ist, als hätte sie neben dem Telefon gesessen und gewartet.
    Hallo, Mama, sage ich, du hast angerufen? Ist alles in Ordnung? Wie geht es euch?
    Wie es alten Leuten halt so geht, sagt sie, und ich widerspreche, wie es von mir erwartet wird, du bist siebenundfünfzig, das ist doch kein Alter, eine Frau in den besten Jahren.
    Aber dein Vater ist siebzig, es geht ihm nicht gut, er hat’s mit dem Herzen, hat der Doktor gesagt, er sollte sich mehr schonen, aber du weißt ja, wie er ist, und trinken tut er auch zu viel, dabei müsste er doch wissen, dass es ihm nicht bekommt. Wann besuchst du uns endlich mal wieder, du warst schon über ein halbes Jahr nicht mehr hier.
    Ich weiche aus, sage nicht, dass ich keine Lust habe, nach Hause zu fahren, ich schiebe alles aufs Studium, Mama, du weißt doch, dass ich an meiner Arbeit sitze.
    Ach ja, sagt sie.
    Ich komme bald, sage ich, auch wenn das ein leeres Versprechen ist, ich sage es nur, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen und um ihren Vorwürfen und Klagen zuvorzukommen, diesem »Wir haben doch nur noch dich«. »Nur noch« steht für »wenn Marie doch noch da wäre«, ich verstehe es, auch ohne dass sie es ausspricht.
    Ich besuche sie selten, und wenn, muss ich mich innerlich wochenlang auf diese Besuche vorbereiten, schließlich weiß ich genau, was mich erwartet. Ich wundere mich jedes Mal aufs Neue, wie fremd sie aussehen, wie alt, und frage mich dann unwillkürlich, ob vielleicht ein Fluch über diesem Haus liegt, der seine Bewohner unnatürlich früh altern lässt. Gibt es das? Gibt es vielleicht noch unentdeckte Viren, die sich in der Wand verkriechen und jeden infizieren, der länger hier lebt? Wenn ich sie so sehe, kommt mir diese Idee gar nicht mehr so abwegig vor. Besondere Heimatgefühle, die ich eigentlich empfinden müsste, wenn ich den Ort meiner Kindheit besuche, wollen sich bei mir einfach nicht einstellen, auch wenn ich mir manchmal selbst vorwerfe, herzlos zu sein. Vielleicht bin ich das ja auch.
    Was es eigentlich ist, was zwischen mir und meinen Eltern steht, weiß ich nicht genau, ich will es wohl auch nicht wissen. Früher war es Omi, danach Marie, aber reicht das als Grund? Wenn ich sie besuche, bin ich jedenfalls immer so angespannt, dass ich die ein, zwei Tage kaum aushalte.
    Sie sehen auch jedes Mal kleiner aus, als ich sie in Erinnerung habe, als wären sie bei der Wäsche eingegangen. Kein Mensch käme auf die Idee, dass sie mal anders waren, und dabei ist es gar nicht so lange her, sieben Jahre, genau gesagt, dass ich mich selbst noch klein und unbedeutend gefühlt habe, wenn ich vor ihnen stand. Ich kann mir überhaupt nicht mehr vorstellen, dass ich früher Angst vor ihnen hatte, aber es ist so, ich weiß es. Wie dünn du bist, sagt meine Mutter, wenn sie mich umarmt, hölzern, wie sie es immer getan hat, du solltest mehr essen, du siehst schlecht aus, dein Vater hat einen Hasen für dich geschlachtet.
    Hasen gehören auch dazu, haben schon früher dazugehört, schon immer hatte er zwei Ställe hinter dem Haus, aber als er dann seine Arbeit bei BMW verloren hatte, waren noch ein paar Ställe dazugekommen, er liebte seine Hasen, und unsere Mutter hatte oft etwas herablassend gesagt, das ist wohl sein bäuerliches Erbe, das da durchschlägt. Mir vergeht der Appetit, wenn ich Hase höre, auch in französischem Rotwein und mit Schalotten bleibt für mich jeder Hase einer der Hasen aus den Ställen hinter dem Haus, Hasen, die jeden Tag gefüttert werden mussten. Und alle paar Wochen wurden zwei oder drei geschlachtet, gehäutet, ausgenommen, zerlegt und abgepackt in der Tiefkühltruhe verstaut. Wenn Besuch zum Essen kam, zum Beispiel die Verwandten aus Bodenmais oder ein Cousin oder eine Cousine
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