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Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue

Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue

Titel: Weiß wie Milch, rot wie Blut - D'Avenia, A: Weiß wie Milch, rot wie Blut - Bianca come il latte, rossa come il sangue
Autoren: Alessandro D'Avenia
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während Hiob unter Tränen klagt, spricht Gott zu ihm: ›Wo warst du, als ich die Erde gründete? Wer hat das Meer mit Türen verschlossen? Hast du bei deiner Zeit dem Morgen geboten und der Morgenröte ihren Ort gezeigt? Wer ist des Regens Vater? Wer hat die Tropfen des Taus gezeugt? Kannst du die Bande der sieben Sterne zusammenbinden oder das Band des Orion auflösen? Wer bereitet den Raben die Speise? Fliegt der Habicht durch deinen Verstand und breitet seine Flügel gegen Mittag? Sag an, bist du so klug!‹«
    Nach Gandalfs Lesung herrscht Schweigen.
    »Wie Hiob schreien auch wir unsere Enttäuschung zu Gott: Wir sind mit seiner Entscheidung nicht einverstanden, wir akzeptieren sie nicht, das ist nur menschlich. Doch Gott bittet uns, ihm zu vertrauen. Das ist der einzige Weg, das Geheimnis von Schmerz und Tod zu lösen: das Vertrauen in seine Liebe. Und die ist göttlich, ein Geschenk Gottes. Doch wir dürfen keine Angst haben, wenn uns das jetzt nicht gelingt. Vielmehr dürfen wir Gott klipp und klar sagen: Wir sind nicht einverstanden!«
    Leeres Gerede! Ich hasse Gott, von wegen ihm vertrauen. Er fährt unbeirrt fort:
    »Doch wir haben die Lösung, die Hiob nicht hatte. Wisst ihr, was der Pelikan macht, wenn seine Jungen Hunger haben und er ihnen nichts zu essen geben kann? Er reißt sich mit seinem langen Schnabel ein Loch in die Brust und lässt die Jungen sein nahrhaftes Blut daraus trinken wie aus einer Quelle. So, wie Christus es mit uns gemacht hat, deshalb wird er oft als Pelikan dargestellt. Er hat den Tod von uns kleinen, hungrigen Kreaturen mit dem Leben besiegt, indem er sein Blut, seine unerschütterliche Liebe, für uns gegeben hat. Ohne dieses Blut würden wir zweimal sterben …«
    In mir wird es still. Ich bin ein Stein aus Schmerz, der in der Leere der Liebe treibt. Vollkommen fühllos.
    »Einzig diese Liebe wird den Tod überdauern. Wer sie erhält und gibt, wird nicht sterben, sondern zweimal geboren werden. Genau, wie es Beatrice getan hat …!«
    Schweigen.
    Schweigen.
    Schweigen.
    »Und jetzt bitte ich jeden zu Wort, der an sie erinnern möchte.«
    Es folgt eine lange, beklommene Stille, dann stehe ich auf, und alle sehen mich an. Gandalf sieht mich ein wenig besorgt nach vorn kommen, er fürchtet, ich könnte irgendetwas Blödes sagen.
    »Ich möchte nur die letzten Worte aus Beatrices Tagebuch vorlesen, Worte, die sie mir diktiert hat. Ich bin sicher, sie hätte gewollt, dass alle hier sie hören.«
    Meine Stimme bebt, und ich trinke unstillbare Tränen, doch ich lese trotzdem.
    »Lieber Gott, heute schreibt Leo Dir, denn ich schaffe es nicht. Aber obwohl ich mich so schwach fühle, will ich Dir sagen, dass ich keine Angst habe, weil ich weiß, dass Du mich in Deine Arme nehmen und wie ein Neugeborenes darin wiegen wirst. Die Medikamente haben mich nicht gesund gemacht, aber ich bin glücklich. Ich bin glücklich, weil ich mit Dir ein Geheimnis habe: das Geheimnis, Dich zu sehen, Dich zu berühren. Lieber Gott, wenn Du mich in den Armen hältst, habe ich keine Angst mehr vor dem Tod.«
    Ich sehe auf, und die Kirche erscheint mir wie untergegangen im Toten Meer meiner Tränen, auf dem ich mit einem Schiff treibe, das Beatrice für mich gebaut hat. Ich treffe Silvias Blick, die mich ansieht und versucht, mich mit den Augen zu trösten. Ich sehe zu Boden. Ich flüchte vor dem Mikro, denn trotz meines Holzfloßes drohe ich in den Tränen zu ertrinken. Das Letzte, was ich noch höre, ist Gandalf:
    »Nehmt und trinkt alle. Dies ist mein Blut, für euch vergossen …«
    Auch Gott vergeudet sein Blut: Ein endloser Regen blutroter Liebe geht jeden Tag über der Erde nieder, um uns lebendig zu machen, doch wir bleiben mausetot. Ich habe mich immer gefragt, wieso Liebe und Blut dieselbe Farbe haben: Jetzt weiß ich es. Alles Gottes Schuld!
    Der Regen berührt mich nicht. Ich bin fühllos. Ich bleibe tot.

L etzter Schultag. Letzte Stunde. Letzte Minute.
    Die Glocke klingelt: die letzte.
    Ihr Krächzen geht in einem Befreiungsschrei unter, als wären Lebenslängliche aus irgendeinem Grund überraschend begnadigt worden.
    Ich bleibe allein in der Klasse zurück: Sie gleicht einem Friedhof. Die Stühle und Tische, die ein ganzes Jahr über lebendig waren, beseelt von unseren Ängsten und unserem Irrsinn, verletzt von unseren Füllern und Stiften, stehen nun reglos da wie Grabsteine. Über allem liegt Totenstille. An der Tafel steht noch das hastige Gekritzel des Träumers, der uns auf seine Art
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