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Vorübergehend tot

Vorübergehend tot

Titel: Vorübergehend tot
Autoren: Charlaine Harris
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Vorderseite zog sich eine geschlossene Veranda, und die Hauswände waren weiß gestrichen, denn meine Oma ist nicht nur in puncto Dächer eine Traditionalistin. Mein Weg führte mich durch das mit allen möglichen leicht ramponierten Möbeln vollgestopfte Wohnzimmer, das haargenau so eingerichtet war, wie es uns paßte, den Flur hinunter zum ersten Schlafzimmer links, dem größten.
    Adele Hale Stackhouse, meine Großmutter, saß aufgerichtet in ihrem hohen Bett, die mageren Schultern auf ungefähr eine Million Kissen gestützt. Trotz der warmen Frühlingsnacht trug sie ein langärmliges Baumwollnachthemd. Ihre Nachttischlampe brannte noch, und auf ihrem Schoß ruhte ein aufgeschlagenes Buch.
    „Holla!“ sagte ich.
    „Hallo, mein Schatz.“
    Meine Großmutter ist sehr klein und ungeheuer alt, aber ihr Haar ist immer noch so dicht und so weiß, daß es aussieht, als hätte es einen klitzekleinen Grünstich. Tagsüber rollt sie die Haare irgendwie im Nacken zusammen, aber nachts trägt sie sie offen oder zu Zöpfen geflochten. Ich blickte auf den Rücken ihres Buches.
    „Du liest also wieder einmal Danielle Steel?“
    „Die Frau kann einfach gut erzählen.“ Bücher von Danielle Steel, die nachmittäglichen Seifenopern (meine Großmutter sagte dazu „meine Geschichten“) und die Treffen der unzähligen Vereine, denen sie angehörte, seit sie erwachsen war, gehörten zu den großen Freuden im Leben meiner Großmutter. Ihre Lieblingsvereine waren die „Nachkommen ruhmreicher Toter“ und der „Gartenbauverein Bon Temps“.
    „Rate doch mal, was heute abend passiert ist?“ bat ich nun.
    „Du hast dich mit einem Mann verabredet?“
    „Nein“, sagte ich und es fiel mir schwer, das Lächeln auf meinem Gesicht nicht erlöschen zu lassen. „Ein Vampir kam ins Lokal!“
    „Oh! Hatte er Fangzähne?“
    Fangzähne hatte ich im Schein der Parkplatzbeleuchtung schimmern sehen, als die Ratten Bill zur Ader ließen, aber das mußte ich Oma ja nicht unbedingt erzählen. „Klar doch. Allerdings sehr dezente.“
    „Ein Vampir, hier mitten in Bon Temps!“ Oma wirkte erfreut. „Hat er irgendwen in der Kneipe gebissen?“
    „Oma, wo denkst du denn hin! Er hat einfach nur dagesessen und Rotwein getrunken. Nein: Er hat ein Glas Rotwein bestellt, aber getrunken hat er es nicht. Ich glaube, er brauchte nur ein wenig Gesellschaft.“
    „Wo er wohl wohnen mag?“
    „Das wird er sicher niemandem erzählen wollen.“
    „Nein“, sagte Oma und dachte einen Moment nach. „Wohl kaum. Hat er dir gefallen?“
    Das war nun eine wirklich schwierige Frage, und ich brauchte einen Moment, ehe ich sie beantworten konnte. „Ich weiß nicht“, sagte ich dann vorsichtig. „Aber er war auf jeden Fall sehr interessant.“
    „Ich würde ihn zu gern kennenlernen!“ Es wunderte mich nicht, diese Worte aus dem Mund meiner Oma zu hören. Die alte Dame hatte fast ebensoviel Freude an neuen Dingen wie ich selbst, und sie gehörte nicht zu den Reaktionären, deren Meinung nach Vampire vom ersten Flügelschlag an verdammt waren. „Aber jetzt will ich lieber schlafen“, fuhr Oma fort. „Ich habe nur gewartet, bis du nach Hause kommst.“
    Ich beugte mich vor, um mich mit einem Kuß von ihr zu verabschieden, und sagte: „Gute Nacht.“
    Ich ging aus dem Zimmer und zog die Tür hinter mir zu, ohne sie jedoch ganz zu schließen. Dann hörte ich das Klicken, mit dem Oma ihre Nachttischlampe löschte. Tina, meine Katze, kam von irgendwoher, wo sie geschlafen hatte, und rieb sich an meinen Beinen. Ich hob sie hoch und schmuste etwas mit ihr, ehe ich sie für die Nacht nach draußen bugsierte. Dann blickte ich auf die Uhr: Es war fast zwei, und mein Bett rief laut nach mir.
    Mein Zimmer liegt dem meiner Oma genau gegenüber auf demselben Flur. Als ich nach dem Tod meiner Eltern bei ihr eingezogen war, hatte Oma die Sachen aus dem Zimmer, das ich im Haus meiner Eltern bewohnt hatte, hierher schaffen lassen, damit ich mich schneller zu Hause fühlte, und hier stehen sie immer noch: das schmale Einzelbett, der Frisiertisch aus weißgestrichenem Holz und die kleine Kommode mit den Schubladen.
    Ich schaltete mein Licht an und zog mich aus. Ich besaß mindestens fünf Paar schwarze Shorts und viele, viele weiße T-Shirts, weil die in der Regel so rasch Flecken bekamen. Wieviel Paar weiße Socken zusammengrollt in meiner Sockenschublade ruhten, hätte ich noch nicht einmal sagen können. Jedenfalls mußte ich in dieser Nacht keine Waschmaschine mehr
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