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Vergiss den Sommer nicht (German Edition)

Vergiss den Sommer nicht (German Edition)

Titel: Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
Autoren: Morgan Matson
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Brief auf den Schoß sinken und schaute hinaus auf den See. Tränen liefen mir über die Wangen, aber ich machte mir nicht die Mühe, sie abzuwischen, denn ich hatte das Gefühl, dass ich wieder weinen musste, wenn ich den Brief noch einmal las. Sorgfältig legte ich das Blatt unter die Tasche mit den anderen Briefen und war immer noch ein bisschen erstaunt, dass mein Vater das für mich getan hatte. Und dass er dafür gesorgt hatte, dass unser Gespräch weiterging und er bei den wichtigsten Ereignissen meines Lebens bei mir war, machte den Gedanken, von nun an ohne ihn durchs Leben zu gehen, ein winziges bisschen erträglicher.
    Ich ließ meine Hände über die Planken gleiten und dachte über den Abschnitt nach, der mich am meisten getroffen hatte – wo er sich über mein Verhalten geäußert hatte. Obwohl ich nicht genau wusste, wann er den Brief verfasst hatte, beschrieb er genau das, was ich mit Henry getan hatte. Weil er mir zu nahe kam, hatte ich ihn weggeschickt, statt seine Hilfe anzunehmen, so wie Warren Wendys Hilfe angenommen hatte. Jetzt begriff ich, dass mich das weder stärker noch unabhängiger machte, sondern ganz im Gegenteil: Es machte mich schwach und furchtsam.
    Trotzdem wusste ich nicht, ob ich wirklich in der Lage war, mein Herz jemandem so zu öffnen, wie mein Vater es sich wünschte. Das war die große, unbeantwortete Frage. Aber ich wusste, dass ich es meinem Vater schuldig war, es irgendwann zu versuchen.
    In dieser Nacht schlief ich besser und ruhiger als den gesamten Sommer über. Als ich aufwachte, schien die Sonne durch mein Fenster und die Vögel zwitscherten schon. Es war wieder ein strahlend schöner Tag. Aber ich war mir bewusst, wie schnell manchmal die Zeit verging und dass die strahlenden Tage nicht unendlich waren. Und plötzlich wusste ich, was ich zu tun hatte.
    Nach dem Aufstehen gab ich mir keine besondere Mühe mit meinem Aussehen, sondern steuerte direkt auf die Tür zu. Henry hatte mich ja diesen Sommer schon in fast jedem erdenklichen Zustand gesehen. Aber viel wichtiger war, dass er mich gesehen hatte – mich, wie ich wirklich war, obwohl ich das immer versucht hatte vor ihm zu verstecken.
    Nach Henry suchen zu müssen war ein komisches Gefühl, nachdem ich ihm den ganzen Sommer ständig einfach so über den Weg gelaufen war. Aber im Grunde meines Herzens wusste ich auch, dass es gut so war – dass ich nach so vielen Jahren, in denen ich vor allem weggelaufen war, jetzt endlich auf etwas zuging.
    Wenn auch nicht unbedingt im Laufschritt, aber das war mitten im Wald ja sowieso nicht so ratsam. Nachdem ich eine gute Viertelstunde unterwegs war und verrottete Baumstämme sorgfältig gemieden hatte, kam ich um eine Biegung und da sah ich ihn.
    Henry saß gegen einen Baum gelehnt auf der Erde, das Sonnenlicht fiel durch die Blätter auf sein Gesicht. Er schaute zu mir hoch und obwohl ich nichts gesagt hatte, stand er auf.
    »Hallo«, sagte ich und sah ihn an, wie ich ihn seit unserer Trennung nicht mehr angesehen hatte. Es war anders als bei unserer ersten Begegnung diesen Sommer, als mir an ihm nur aufgefallen war, wie süß ich ihn fand. Diesmal bemerkte ich seine freundlichen Augen und wie einsam seine Hand wirkte, wenn sie meine nicht halten konnte.
    »Hallo«, antwortete er. Sein Tonfall klang fragend, und ganz sicher wunderte er sich, was ich hier wollte.
    »Danke, dass du gekommen bist«, sagte ich, und er verstand sofort, dass ich die Beerdigung meinte. »Das hat mir viel bedeutet.«
    »War doch selbstverständlich«, antwortete er und lächelte mich traurig an. »Ich hab deinen Vater wirklich sehr gemocht.« Ich nahm die Vergangenheitsform zur Kenntnis und traute mich nicht so recht zu antworten. »Und außerdem hast du eine tolle Rede gehalten. Ich war echt stolz auf dich, Taylor.«
    Ich schaute ihn an. Wieder fiel ihm die eine Locke ins Gesicht, und ich hätte am liebsten meine Hand ausgestreckt und sie zurückgestrichen. Und geküsst hätte ich ihn auch gern. Und ihm alles gesagt, was ich für ihn empfand, obwohl ich mir manches davon bis eben noch gar nicht eingestanden hatte.
    »Und?«, fragte er und schob die Hände in die Taschen. »Was machst du hier im Wald? Hast du dich verlaufen?«
    »Nein«, antwortete ich und bemerkte im selben Moment, wie sehr das stimmte. »Ich hab mich nicht verlaufen.« Ich holte tief Luft und wusste, dass ich im Begriff war, etwas zu tun, was das komplette Gegenteil von allem war, was ich je zuvor getan hatte. Ich stellte mich
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