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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Autoren: Sándor Márai
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welcher Truppenstärke sie hierher vorstoßen werden. Ein großes russisches Truppenkontingent bezieht am rechten Donauufer Stellung, in den letzten zwei Tagen sah ich vier-, fünftausend Mann mit Geschützen. Und gerüchtweise verlautet, dass die Russen vom Baltikum bis zur Drau ihre allgemeine große Winteroffensive mit zweihundertfünfzig Divisionen begonnen haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir hier ins Schussfeld geraten, ist größer denn je; und was geschieht, wenn auch diese letzte kleine Zuflucht zerstört wird? … Der Krieg ist ein abscheuliches Etwas; und alles in allem dennoch die verdiente Strafe für unsere Sünden.
    Zu Mittag Besuch einer größeren Gruppe von Russen. Offiziere. Sie sind zu sechst, verlangen nichts zu essen, zu trinken, sie unterhalten sich freundlich. Schauen sich die Bücher an, erkundigen sich, ob ich auch russische Bücher hätte. Einer nimmt die deutsche Ausgabe eines Tolstoi-Romans in die Hand; ihr Anführer, ein Moskauer Major, sagt in ernstem Ton, dass deutsche und ungarische Truppen Jasnaja Poljana verwüstet hätten. Sie interessieren sich für meine Schreibmaschine, der Major beugt sich über meine Manuskripte und bittet mich, ihm einige Seiten Durchschriften meines Manuskripts als Andenken zu geben; er bekommt ein paar Seiten aus der Schwester und verstaut sie vorsichtig in seiner Kartentasche. Zum Abschied sagt er: »Schreiben Sie, dass ein russischer Major hier war und Ihnen nichts Böses getan hat.« Ich schreibe es.
    Die Ungarn ließen in Woronesch ein schlechtes Andenken zurück und auch anderswo; die Russen sprechen nicht gerne darüber, doch manchmal bricht es aus ihnen heraus. Die Offiziere interessierten sich sehr für die Manuskripte, die Schreibmaschine – Schreiben ist etwas sehr Wichtiges für sie. Wie zu Beginn jeder anfänglichen großen menschlichen Unternehmung hat auch in ihren Augen das Schreiben magische Bedeutung. Erst später, in der Zivilisation, wird das Geschriebene zur Handelsware, zu einer modischen Liebhaberei.
    Am Morgen nach Tahi, wo man in der Mühle Mehl bekommt. Die Fahrt in einer Zille zwischen den Eisschollen, die in unterschiedlichen Ausmaßen auf der Donau treiben, ist ziemlich abenteuerlich.
    In der Mühle von Tótfalu herrscht Großbetrieb; sackweise bringt man Getreide zum Mahlen. Diese Bauern sind wohlhabend; während ich auf den gnädigen Herrn Müller warte, mustere ich ihre Stiefel, ihre Kleider, ihre Pelzjacken; alles gut verarbeitet, warm, solide. Auch Lebensmittel gibt es hier reichlich, nur sind sie versteckt. Dieser Bauernstand will keine Revolution.
    Der Müller gibt mir zehn Kilo Mehl. Mit diesem Schatz schleiche ich davon, wieder ins Boot, nach Hause. All das wirkt surreal … aber es ist vielleicht noch nicht das Schlimmste.
    Seit zehn Monaten bin ich nicht mehr in meiner Wohnung, habe keinen Arbeitsplatz, kein Einkommen, keinen Umgang mit Menschen; versteckt, manchmal in der Feuerlinie, inmitten von unvorhersehbaren und wirklichen Gefahren, in völliger Unsicherheit, verfolgt und ausgeliefert – seit zehn Monaten lebe ich so.
    Es kann aber auch sein, dass ich mich in diesen zehn Monaten herrlich ausgeruht habe.
    Vieles erlebe ich in diesen Tagen. Vielleicht kommt noch die Zeit, da ich all das aufschreiben kann, was ich erlebt habe. [Durchgestrichener Eintrag.]
    Die Traurigkeit stellt sich gegen Morgen ein; sie spricht dieser Tage so eindringlich zu mir, dass ich manchmal vor der Kraft ihrer Stimme erschrecke.
    Warum lebe ich denn noch? Vielleicht, um Die Beleidigten zu vollenden. Vielleicht ist aber auch das nur eine Ausrede, ein Vorwand.
    Was Goethe Die Forderung des Tages nannte, ist nützlich und hilfreich, wenn daneben auch für kreative Arbeit noch Zeit bleibt. Doch wenn das, was der Tag fordert – die Erhaltung der nackten Existenz und die Ernährung –, den Tag völlig ausfüllt, wird das Leben sinn- und zwecklos.
    Was Spengler »faustische Seele« nennt, ist eine aus Verdächtigem und Gefährlichem zusammengesetzte Seele; in ihr gärt bereits all das, was später auf »plebejische Art«, mithilfe der Nazis und ihrer Deutungen, die Deutschen so verhängnisvoll bewegt hat. Stoa und Buddhismus sind keineswegs so gering zu schätzende Geisteshaltungen, wie dies der Deutsche Spengler mit seiner »faustischen Seele« glaubt; beide geben die Möglichkeit zur Größe und zum Schöpferischen. Und gerade der Dichter des Faust ist ein großes Beispiel dafür, dass eine »apollinische« Seele genauso vollkommen und
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