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Unter der Haut (German Edition)

Unter der Haut (German Edition)

Titel: Unter der Haut (German Edition)
Autoren: Doris Lessing
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bevor Stalins Wahnsinn seinen Höhepunkt erreichte, bevor sich die Situation in Ostdeutschland verhärtete und für Westler zu einer Todesfalle wurde.
    Nach kurzer Zeit schrieb Gottfried einen Brief und lud Peter für den Sommer ein. Ihn tatsächlich loszuschicken war für mich das Schrecklichste, was ich je getan habe, aber ich sah keinen Grund, Gottfried nicht zu vertrauen. Das Kind war vier. Er fuhr für zwei Monate, verbrachte diese mit seinen Cousins und Cousinen und hatte eine sehr schöne Zeit. Als er zurückkam, konnte er kein Wort Englisch mehr und plapperte munter deutsch mit mir. Sie hatten ihm auch beigebracht, die linke Hand beim Essen neben den Teller auf den Tisch zu legen und die Hacken zusammenzuschlagen und einen Diener zu machen, wenn man ihn ansprach.
    Binnen weniger Wochen verschwand aber der kleine deutsche, und der englische Junge war wieder da. Gottfried hatte ihm einen Brief mitgegeben, in dem er vorschlug, dass Peter den Sommer grundsätzlich bei ihm verbringen solle. Und dann – nichts mehr, totale Funkstille. Das Kind hatte einen guten, liebevollen, vertrauten Vater gehabt, den er besucht und bei dem er eine zweite Familie gefunden hatte, und jetzt war dieser Vater plötzlich weg. Ich schrieb nach Deutschland, ich ließ von Leuten, die hinfuhren, Botschaften übermitteln. Nichts. Ich schrieb ihm und erzählte, dass das Kind untröstlich sei, nach ihm frage, sich in den Schlaf weine. Könne er ihm wenigstens Briefe schreiben? Nichts. Dann fuhr ich nach Berlin und versuchte, Gottfried aufzuspüren. Aber er ging nicht ans Telefon und reagierte nicht auf Nachrichten, die ich hinterließ. Das war vor dem Bau der Mauer. Ich hatte bereits einen ostdeutschen Verleger, den bat ich, an meiner Stelle Druck auf ihn auszuüben. Er tat es. Ich war inzwischen zu wütend, um darüber nachzudenken, ob das vielleicht gefährlich sein könnte. Schließlich machte ich mich zu einem der neuen, abgrundtief hässlichen Wohnblocks auf, und dort fand ich Gottfried mit seiner Schwester Irene Gysi in einer schicken, neuen, aber nicht großen Wohnung, voll von schlichten, neuen Möbeln des Stils, den man damals skandinavisch nannte. Die beiden sahen aus, als hätte der Krieg nie stattgefunden, als lebten sie noch das Leben, in das Hitler eingebrochen war. Sie waren elegant, weltoffen und bedienten sich des halb zynischen Wortwitzes, den man in den Kreisen der Reichen und Erfolgreichen so häufig hört. Sie waren alles andere als reich. Beide betonten, dass sie an den Wochenenden zu Arbeitseinsätzen eingeteilt seien, wo sie auf Baustellen arbeiteten oder ähnliche Dinge taten. Ich sagte Gottfried, er habe dem Kind Versprechungen gemacht, an die er sich nicht gehalten habe. Gottfried gab sich lässig und arrogant, als wäre das alles nicht von Bedeutung. Innerlich aber muss er vor Angst gezittert haben. Ich hatte damals keine Ahnung, wie groß seine Angst wirklich war. Er gab mir ein bisschen Geld, gerade genug für ein Spielzeug. Ich sagte ihm, dass mir das Geld egal sei, ich wolle lediglich, dass er die Verbindung zu seinem Sohn aufrechterhalte. Es war eines der schlimmsten Erlebnisse meines Lebens. Ich musste einsehen, dass sich durch meinen Besuch nicht das Geringste ändern würde.
    Und so war es. Bald darauf wurde Gottfried Vorsitzender der Handelskammer, ein Posten, der im Osten mehr politische Bedeutung hatte als entsprechende Positionen im Westen. Leute, die in Ostdeutschland gewesen waren, erzählten, dass man, um zu Gottfried vorzudringen, durch etliche Zimmer mit Befehlsempfängern müsse. Er ließ mir von allen nonchalant alles Gute wünschen. Einige Leute, die sich »auskannten«, erklärten, dass er sich natürlich keine Westkontakte leisten könne, weil es ihn sein Leben kosten könne, und dass er besonders gefährdet sei, weil er den Krieg nicht in der Sowjetunion, sondern als Flüchtling verbracht habe. Andere wiederum, die sich »auskannten«, behaupteten, dass die stets um Menschlichkeit bemühte Partei Verständnis dafür aufbringen werde, wenn er den Kontakt zu seinem Sohn aufrechterhalten wolle. Aber alle Theorie ist grau … mir war es egal, ob ich ihn je wiedersah – und ich sah ihn auch tatsächlich nie wieder, aber das mit seinem Sohn war mir sehr wichtig. Ich machte dicht, eine Tür im Innern war zugeschlagen, ich »wollte nichts mehr von ihm wissen« – eine exakte Beschreibung meiner damaligen Verfassung.
    Unterdessen hatte Gottfried Ilse Dadoo geheiratet. Der Inder Dadoo war einer
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