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Überm Rauschen: Roman (German Edition)

Überm Rauschen: Roman (German Edition)

Titel: Überm Rauschen: Roman (German Edition)
Autoren: Norbert Scheuer
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Einmal hatten sie mit einem Motorschaden mitten im Indischen Ozean gelegen und auf Ersatzteile gewartet. Manchmal redete er auf den Kassetten auch vom Fluss, vom Angeln und unseren Fischen, fragte, ob ich mit ihm zum Fischen gehen wolle, wenn er wieder zurück sei.
    Wie viel Wasser mag in dieser Zeit den Fluss hinuntergeflossen sein, vielleicht genug, um ein Meer zu füllen, wie viele Dinge sind in dieser Zeit geschehen, bestimmt genug für ein ganzes Universum von Geschichten.
     
    Ich spüre einen Ruck an der Schnur, muss mich jetzt ganz auf den Fisch konzentrieren, darf an nichts anderes denken, deswegen stehe ich ja schließlich hier. Ich atme einmal tief durch, hebe die Rute an, bis die Schnur zwischen Rutenspitze und Fisch straff ist, halte sie so, dass sie deutlich Spannung hat. Dabei dringt der Haken hoffentlich tief in die harte Maulpartie des Fisches ein. Es ist eine schwere Forelle, sie beißt nicht auf die Fliege, sondern sie saugt den angebotenen Nahrungsbrocken samt einem kräftigen Schluck Wasser ein. Das Wasser strömt durch ihre Kiemen wieder aus, die Fliege bleibt in der Mundhöhle zurück. Aber diesmal ist es mein Haken, der in ihrem Kiefer steckt. Die Forelle erschrickt, reagiert mit Flucht, ich lasse sie ruhig einige Meter ziehen, bis sie an einer ihr Schutz bietenden Stelle steht. Dann nehme ich vorsichtig Kontakt auf, indem ich die Schnur wieder verkürze, gehe gleichzeitig einige Meter auf den Fisch zu, um die Distanz zu verringern. Mit der Hand an der Schnur kann ich besser auf seine Befreiungsversuche reagieren. Als ich Kontakt mit ihm habe, versucht er sich erneut in Sicherheit zu bringen. Ich lasse ihn gewähren, versuche, ihn aus dem tiefen Wasser zu bringen, um ihn in einem hindernisfreien Bereich müde zu drillen. Wenn ich ihn dort habe, werden seine Kräfte schnell erlahmen, er wird sich in einem weitgehend wirkungslosen Oberflächengefecht verausgaben, wobei seine vordere Kopfpartie manchmal aus dem Wasser gerät, was seine Atmung erschwert, wenn nicht gar unterbricht. Aber er scheint zu wissen, was ich vorhabe, wehrt sich, denn das ins Wasser getauchte Vorfach kommt plötzlich nach oben, was heißt, dass er jetzt springen oder sich an der Oberfläche wälzen wird, wodurch das Vorfach reißen und er mir entwischen könnte. Ich senke die Rutenspitze daher bis zur Wasseroberfläche, damit der nach oben gerichtete Schnurzug entfällt und er abtauchen kann. Und genau das macht er auch, er taucht und taucht, das Wasser ist an dieser Stelle bestimmt zwei bis drei Meter tief. Er findet Schutz hinter einem Fels, in einer kleinen Höhle unter dem Fels. Mein Gott, er wird mir entwischen, er ist mir überlegen – jeder große und erfahrene Fisch scheint mir überlegen zu sein. Ich werde es nie lernen, stehe letztendlich mit gerissenem Vorfach wie ein Trottel da, meine Hände zittern noch, während ich die Schnur einhole und wütend mit meiner Rute aufs Wasser schlage. «Mist, es ist immer noch wie früher, nichts hat sich geändert, aus mir wird nie ein guter Angler.» Jeder Fisch, der mir entwischt, schwimmt mit einem Stückchen von meinem Mut davon. Ich fühle mich völlig leer, denke daran aufzugeben, mich in den nächsten Zug zu setzen und nach Hause zu fahren, aber wo ist mein Zuhause?

 
     
     

    Fliegende Fische (Exocoetidae) schwimmen dicht unter der Wasseroberfläche. Dann schießen sie aus dem Wasser und gleiten mit ihren Flügelflossen durch die Luft, landen ganz kurz im Wasser und schnellen dann wieder hoch. Fliegende Fische werden von großen Raubfischen und von Seevögeln gejagt. Sie legen ihre Eier an Wasserpflanzen ab. Die Jungfische haben zuerst noch kurze Brustflossen.

23
    Als Hermann von der Seefahrerei nach Hause zurückkam, war Vater bereits gestorben. Er hatte nicht sterben wollen, am schlimmsten war, dass er sich so ans Leben klammerte und immer von diesem alten Fisch, Ichthys, sprach und ihm an allem die Schuld gab, er packte Mutters Hand, drückte sie fest und prophezeite unentwegt, dass wir alle von ihm gefressen würden: «Wer nicht liebt, wird gefressen.» Er hatte einen Hirntumor, bekam Morphium, fantasierte dann, dass der Fisch uns allen die Glieder abreißen würde. In den Monaten vor seinem Tod zog er sich oft in den Keller zurück, wo er in einem kleinen Verschlag apathisch in seinem Sessel saß. Er ging nicht mehr an den Fluss, es genügte ihm, im Keller sein Ohr an die nasse Bruchsteinmauer zu legen, an der das Wasser vorbeiströmt.
    Einige Monate nach
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