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Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Titel: Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
Autoren: Georg Pieper
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Sri Lanka beobachtete ich, dass vor allem Kinder große Angst hatten, in die Nähe des Wassers zu kommen. Es gab Hunderte von Vollwaisen, die bei der Katastrophe beide Eltern und oft noch ihre Geschwister verloren hatten.
    Viele Menschen, die am Meer wohnten, waren damals, als das Wasser sich weit zurückgezogen hatte, neugierig über die neuen Sandbänke gelaufen, um Muscheln und kleine Fische einzusammeln. Das Anzeichen, dass der Rückzug des Wassers der Vorbote einer riesigen Flutwelle war, konnten sie nicht erkennen.
    Was mich in diesem Zusammenhang besonders beeindruckte, war Folgendes: Auf Sri Lanka verlor nach den Erzählungen der Einheimischen nicht ein Elefant sein Leben in den Fluten. Das ist erstaunlich, denn dort gibt es sehr viele Elefanten. Die Tiere reagierten sehr früh, kein Mensch verstand, warum sie mit einem Mal unruhig wurden, landeinwärts liefen und sich höher gelegene Standorte als Schutzraum suchten. Sie spürten offensichtlich die Gewalt des herantosenden Tsunami und folgten uralten Instinkten. In einer Region des Landes erzählte man mir, sogar Hunde, Katze, Kaninchen und andere Kleintiere hätten ebenso reagiert. Es scheint, als hätten wir Menschen im Laufe der Jahrtausende die Fähigkeit verloren, frühe Warnzeichen der Natur wahrzunehmen. Es mag sein, dass dies der Preis für unsere intellektuelle Entwicklung ist, doch könnte man dieses Phänomen auch als Hinweis darauf interpretieren, dass es für uns nicht gut ist, sich immer weiter von der Natur zu entfernen.
    Als ich in Thailand ankam, rechnete ich damit, jeder Menge traumatisierter Menschen zu begegnen. Allein schon unter den einheimischen Helfern. Durch meine Arbeit mit Grubenwehrleuten oder Einsatzkräften, die Tote bergen mussten, war ich darauf gefasst, auf Rettungskräfte zu treffen, die mit der Verarbeitung des Erlebten Probleme hatten. Die »hilflosen Helfer« (so hieß es in vielen Zeitungsberichten), die ich kannte, gaben häufig an, nachts nicht mehr schlafen zu können, weil sie dauernd von Toten träumten. Sie schilderten, dass sie tagsüber plötzlich Bilder von zerstückelten Leichen vor Augen hatten, dauernd nervös seien, psychosomatische Krankheiten entwickelt hätten und sich zum Teil nicht mehr in der Lage fühlten, diese Tätigkeit weiter auszuüben. Im Vergleich zu »deutschen« Katastrophen war das Ausmaß des Tsunamis ungleich größer. Wie erst würde es den Helfern dort gehen?
    Beispielhaft für viele möchte ich hier die Geschichte eines jungen Mannes aus Thailand berichten, der 2004 ein strandnahes Bungalow-Resort mit 35 Zimmern verwaltete und dort mit schlimmster Verwüstung, Tod und Leid konfrontiert worden war: Da er am Vorabend mit Gästen bis spät nachts Weihnachten gefeiert hatte, schlief er an jenem Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertages ungewöhnlich lang. Gegen 9 Uhr riss ihn das Klingeln des Telefons aus dem Schlaf. Am Apparat war sein Vater, der 300 Kilometer entfernt wohnte und ihn fragte, ob er ein Erdbeben bemerkt habe. Der junge Mann verneinte, versicherte sich aber dennoch bei der Rezeption, dass wirklich alles in Ordnung war. Als man bejahte, zog er sich an und ging hinunter zum Swimmingpool, von dem aus man direkt auf das Meer sehen kann. Er bemerkte, dass sich das Wasser sehr weit zurückgezogen hatte und sich Einheimische und Touristen weit hinter der eigentlichen Strandlinie tummelten. Der Hotelier wusste sofort, was das bedeutete. Er hatte als Kind gerne japanische Comics gelesen, und dort war einmal von einem Tsunami die Rede gewesen, der sich dadurch angekündigt hatte, dass sich das Meer unnatürlich weit zurückgezogen hatte. Im selben Moment fiel ihm auf, dass die Natur schwieg, es war totenstill, kein einziger Vogel, kein Hund, nichts war zu hören. Minuten später hörte er das Geräusch der heranrollenden Welle und schrie: »Run! Run away!« Manche reagierten auf sein Rufen und liefen zurück, andere starrten regungslos auf das Naturschauspiel. Er selbst lief zu einem Wasserturm auf dem hinteren Teil des Grundstücks und eilte die Stufen nach oben. Dort angekommen sah er, dass das Areal mit den Bungalows bereits überschwemmt war. Auf den ersten Blick schien es, als sei die Flut langsam gestiegen und würde sich bereits wieder zurückziehen. Dann traf eine zweite, wesentlich mächtigere Welle die Küste, die alles mit sich riss: Bäume, Möbel, ganze Strandhütten – und Menschen, die sich verzweifelt an einem Stück Holz, einem Tisch, an irgendetwas festzukrallen
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