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Totenmond

Totenmond

Titel: Totenmond
Autoren: Sven Koch
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deinem Dad beweisen, dass es mindestens so toll ist, wenn er eine bekannte Kriminalpsychologin zur Tochter hat wie eine renommierte Düsseldorfer Rechtsanwältin. Aber bei allem vergisst du dich selbst. Du vergisst zu leben. Und du als Psychologin solltest das selbst wissen, statt es dir von einer pummeligen Kripo-Beamtin sagen zu lassen.«
    »Bei dir ist das anders, Helen. Du bist anders. Sicher, wir haben vieles gemeinsam, aber wir sind auch grundverschieden. Ich bewundere, wie du mit deiner Rolle als alleinerziehende Mutter klarkommst.«
    »Das ist alles Fassade«, sagte Helen und aß noch ein Stück Pizza. »In Wahrheit war es ein grandioses Scheitern, eine Bankrotterklärung an alle Ziele, die ich im Leben hatte. Aber soll ich von morgens bis abends jammern?« Helen schüttelte den Kopf. »Keine Chance.«
    Wie ein an Land gezogener Fisch begann Alex’ Handy auf dem Tisch zu zappeln. Helen zog verächtlich eine Augenbraue hoch, weil Alex nach wie vor das einprägsame Titelthema von Beverly Hills Cop als Klingelton verwendete. Alex warf einen Blick auf das Display. Es zeigte Schneiders Nummer an. Schneider war inzwischen so etwas wie Alex’ Partner bei der Polizei. Wer ihn nicht kannte, mochte ihn für einen tumben Typen halten. Doch hinter der Maske eines Kegelbruders versteckte sich ein glasklarer Verstand. Schneider war außerdem der Einzige gewesen, der nach der Sache im Gymnasium in Alex’ Büro gekommen war und gesagt hatte, sie solle sich mal wieder einkriegen, außerdem sei Kowarsch verantwortlich, weil er sich nicht an den Ablaufplan gehalten habe.
    Schneider am Sonntag, das konnte jedenfalls nur zwei Dinge bedeuten: Ärger oder Arbeit.
    Alex griff nach dem Telefon, presste sich das linke Ohr mit dem Zeigefinger zu und meldete sich mit einem knappen: »Hallo?«
    »Ich störe dich ja nur ungern am Wochenende, aber …« Schneider unterbrach sich. »Sag mal, was ist denn das da für ein Lärm, bist du im Hallenbad?«
    »Nein, Kinderspielewelt.«
    »Soso. Ich würde ja gerne noch weiter mit dir plaudern, aber ich friere mir hier draußen mit der Spusi den Arsch ab. Dein Typ wird verlangt.«
    »Was gibt’s denn?«, fragte Alex ernst und schaute Helen in die Augen, die besorgt zurückblickte, während sie sich mit dem Handrücken den Mund abwischte.
    »Eine Tote. Die alten Schliemannschen Möbelwerke – weißt du, wo das ist?«
    »Sicher.«
    »Komm in die Strümpfe. Und zieh dir was Warmes an.« Dann beendete er das Gespräch.
    »Arbeit?«, fragte Helen.
    Alex nickte stumm, zog sich eilig ihren roten Pullover über und schlüpfte in die mit Fell gefütterte Bomberpiloten-Lederjacke, steckte das Handy in die Seitentasche und stieß dabei an den dämlichen Briefumschlag von neulich, den sie immer noch nicht abgeheftet hatte.
    »Leichenfund«, entgegnete Alex geistesabwesend, band sich die Haare zusammen, knotete den Schal um und zog den Haustürschlüssel aus ihrer Tasche, um ihn Helen zu reichen. »Tut mir leid, ihr wollt ja gleich wieder nach Düsseldorf fahren, und eure ganzen Sachen …«
    »Kein Problem«, sagte Helen und nahm den Haustürschlüssel entgegen. »Ich lege ihn wieder unter den Blumenkübel.«
    »Sag Lisa, dass ich …«
    »Mach dir keine Gedanken«, kürzte Helen ab.
    Alex entschuldigte sich mit einem Lächeln und humpelte so schnell wie möglich in Richtung Ausgang. Als sie ihn fast erreicht hatte, hörte sie Helen rufen.
    »Alex!«
    Alex drehte sich um und tastete dabei instinktiv ihre Taschen ab. Hatte sie etwas vergessen? Ihre Geldbörse? Ihre … Dann sah sie, was Helen mit spitzen Fingern hochhielt. »Deine Socken!«

7.
    D ie alten Schliemannschen Werke lagen im Zentrum einer Gewerbebrache direkt gegenüber dem früheren Holzlager von Schwering und Söhne – einst das pumpende Herz der Region, das die Lemfelder Möbelindustrie mit Rohmaterial aus aller Welt versorgt hatte. Doch die goldenen Zeiten waren lange vorbei. Der Strukturwandel hatte tiefe Wunden gerissen.
    Um eine solche handelte es sich bei den Schliemannschen Werken, deren seit Jahren offen stehenden Schlagbaum Alex’ Mini gerade passierte. Das ehemalige Pförtnerhäuschen war mit Graffiti besprüht, der weitläufige Hof dahinter mit Neuschnee bepudert. Links und rechts lagen die beiden Hauptgebäude, die über eine Versorgungsbrücke verbunden waren. Gewaltige Eiszapfen hingen davon herab. Alex konnte sich der Vorstellung nicht erwehren, vom mit durchsichtigen Reißzähnen bewehrten Schlund eines Tiefseemonsters
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