Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totenmond

Totenmond

Titel: Totenmond
Autoren: Sven Koch
Vom Netzwerk:
brauchten Bilder für die Werbung.
    »Krass«, sagte Franky, blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Ruine. Hans war ein langer dünner Schlaks mit gepiercter Augenbraue. Er hatte eine Wollmütze auf dem Kopf, rauchte eine Selbstgedrehte und kaute gleichzeitig ein Kaugummi.
    »Ja, ne?«, meinte Hans und stellte den Kamera-Kram ab. Er war der Schlagzeuger und hatte deswegen keine Gitarrenkoffer zu schleppen, und ein ganzes Schlagzeug musste man für die Aufnahmen nun nicht ab- und wieder aufbauen.
    Hans schnaubte in seinen Wollschal, zu dem er eine Army-Jacke trug. Er sah sich um. Es war an diesem trüben Tag kaum richtig hell geworden, aber noch war genug Licht. Die Kulisse der Ruine würde sich astrein auf den Bildern machen. Die alten, verbrannten Holzbalken des Dachstuhls. Die langen Eiszapfen. Der Frost auf den Fenstern und alles. Total »spooky«, und außerdem passte es gut zum CD-Titel von Tush: Die CD hieß »Icemen«.
    Leon stellte den Basskoffer ab und nickte. In seinem Bart hatten sich einige Schneeflocken verfangen. Über die Säume seiner weiten Cargohose hatte er graue Stricksocken gezogen. Die Stricksocken steckten in Springerstiefeln. Er sagte: »Geht glatt als ’nen New Yorker Hinterhof durch oder so.«
    »Oder Seattle«, ergänzte Franky.
    Leon grinste zufrieden und nickte immer noch. Er tat das dauernd, so, als folge er irgendeinem inneren Groove, den nur er und sonst niemand hörte. »Genau, Seattle. Kurt hätte seine wahre Freude gehabt.« Er meinte Kurt Cobain von Nirvana, die aus Seattle stammten. Kurt war längst tot und Nirvana wie Kurt eine Alternative-Rock-Legende.
    Hans klappte das Stativ auseinander, stellte es vor sich und schraubte die Spiegelreflex obendrauf. »Vor der siffigen Wand mit den vereisten Fenstern wäre das geil«, sagte er. »Das gibt noch so visuelle Effekte, die bekommst du beim Bearbeiten gar nicht hin.«
    »Echt ist immer besser.« Leon nickte, nahm den Bass aus dem Koffer und schlurfte zur Wand.
    Der Putz war großflächig abgeplatzt und gab das Mauerwerk frei. Mannshohe, teils erblindete Fenster bildeten eine Art Glasfassade. Einige waren stellenweise mit Eis und Frost verkrustet. Leon stellte sich mit dem Rücken zur Wand in Pose. Er hielt das Instrument wie einen Baseballschläger in den Händen und schob das bärtige Kinn vor. »So?«
    Hans schaute kurz hin. Sah gut aus. Er hob einen Daumen und grinste. Franky postierte sich mit Gitarre neben Leon und setzte einen möglichst coolen Gesichtsausdruck auf. Hans richtete die Kamera aus, wählte einen Bildausschnitt, der für ihn selbst noch genug Platz ließ, und stellte den Selbstauslöser ein. Schließlich lief er los, stellte sich zwischen seine Bandkollegen, stopfte die Hände in die Hosentaschen und versuchte, so zu gucken wie Dave Grohl auf einem der Foo-Fighters-Plakate, die zu Hause bei Hans an der Wand hingen. Grohl war früher Drummer bei Nirvana gewesen. Drummer wie Hans.
    Dann löste die Kamera aus. Sofort geriet Bewegung in Tush. Die Musiker gruppierten sich um den Fotoapparat. Hans rief auf dem Display das Bild auf und war zufrieden.
    »Stark«, kommentierte Franky.
    Leon nickte. »Zoom doch mal ran, ich will sehen, wie wir gucken.«
    Hans drückte auf die Taste mit der Lupe und vergrößerte das Bild. Im nächsten Moment war das Display von irgendeinem Muster auf den Fenstern ausgefüllt. Sah fast aus, als stehe ein Mensch dahinter, dachte Hans. Er scrollte den Ausschnitt zu den Gesichtern.
    »Deine Augen sind zu, Leon«, sagte Hans. »Das geht nicht, müssen wir neu machen.«
    »Okay.« Leon nickte und ließ die Antwort wie eine Frage klingen.
    Franky sagte: »Zeig doch noch mal den Ausschnitt von eben. Das kam krass irgendwie.«
    Hans scrollte zurück. Wieder kam es ihm so vor, als stehe da jemand hinter dem Fenster. Er skalierte den Ausschnitt noch etwas. Und hielt die Luft an.
    Leon gab ein unbestimmtes Geräusch von sich. Franky ein leises »Wow«. Hans sagte kein Wort.
    Er hatte plötzlich das Gefühl, als würde er in einem Fahrstuhl ungebremst in einen Abgrund sausen. Er rannte zum Fenster, legte beide Hände gegen die Scheibe und sein Gesicht an die Handkanten. Sein schneller Atem ließ das Glas beschlagen, aber er konnte immerhin erkennen, dass er sich nicht getäuscht hatte. Er flüsterte »Fuck«, machte einige Schritte rückwärts und sah hektisch hin und her. Irgendwo musste doch eine Tür sein.
    Er hörte Franky rufen: »Was ist da, Hans?« Seine Stimme klang
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher