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Töchter des Schweigens

Töchter des Schweigens

Titel: Töchter des Schweigens
Autoren: Elia Barceló
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das schon. Carmen war großartig im Bett. Und fröhlich und unbefangen, und sie hatte ein gutes Herz. Sie war ein bisschen ordinär, aber ein nettes Mädchen, das ihm die Versetzung in diesen Ort erträglicher gemacht hatte.
    Dennoch wusste er nie, wie er seine Beziehung zu ihr benennen sollte. Seine »Lebensgefährtin« war sie nie gewesen; »Geliebte« klang schwülstig und nach Sünde; »Freundin« traf es nicht im Entferntesten. Warum ist es so schwierig, eine Beziehung zu definieren?, fragte er sich. Selbst die allgemein gebräuchlichen Bezeichnungen, die jedermann zu verstehen glaubt, sind trügerisch. Vater und Sohn. Eine auf den ersten Blick einfache, klare Beziehung ohne Zweideutigkeiten. Und trotzdem: Wer weiß schon, wie diese Beziehung tatsächlich ist, wie viel Liebe oder Hass sich darin verbirgt? »Freund« klingt nach viel weniger; dennoch gibt es Freunde, die bereit sind, alles zu teilen und einander bis zur letzten Konsequenz zu helfen, während es Eltern gibt, die ihre Kinder quälen, Söhne, die ihre Väter erstechen, Ehepaare, die im Dauerkrieg liegen und schließlich ihre Partner umbringen. Was mochte es in Lenas Leben gegeben haben, das jemanden dazu treiben konnte, sie zu ermorden?
    An diesem Morgen hatte er mit Ana darüber gesprochen, jedoch ohne einen Schritt vorangekommen zu sein. Lena war ruhig, schweigsam, optimistisch, stets bereit, anderen unter die Arme zu greifen, in jedem Menschen und allem, was ihr im Leben widerfuhr, immer nur das Beste zu sehen. Das sagten alle, und er dachte genauso. Immerhin hatte er sie seit fast zehn Jahren gekannt.
    Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und rieb sich energisch die Augen. Lief hier etwa noch so ein Verrückter frei herum und ermordete wahllos allein lebende Frauen? Der letzte, der ihnen im Frühjahr ins Netz gegangen war, ein Mann, der zu seinem puren Vergnügen zwei ihm unbekannte Frauen ermordet hatte, hatte allerdings ein Schlachtermesser dazu benutzt. Er hatte seinen Opfern fast ein halbes Dutzend Stiche versetzt, einfach so, weil er, wie er in seinem Geständnis sagte, plötzlich ein dringendes Bedürfnis danach verspürt hatte.
    Lenas Mörder war ein anderer Typ, was den Gedanken nahelegte, dass er sie nicht zufällig ausgewählt, sondern ein konkretes Motiv gehabt hatte, sie zu töten; sie auf diese Weise zu töten, indem er sie in der Badewanne verbluten ließ, als wollte er jene frühere Szene nachstellen, die ihm Rita Montero geschildert hatte.
    Auch aus dieser Frau wurde er nicht schlau. Sie war eigenartig. Ein wenig männlich, zu intellektuell für seinen Geschmack und außerdem zu berühmt. Berühmt auch noch ausgerechnet für Filme über Intrigen und Verbrechen. Doch ebendas widersprach einem Verdacht gegen sie, denn wenn Rita Montero einen Mord geplant hätte, dann bestimmt nicht so dilettantisch, dass ihnen bereits nach einer knappen halben Stunde Zweifel an der Echtheit des Selbstmordszenariums gekommen wären. Allerdings hatte er seit ihrem Gespräch in der Bar das Gefühl, dass sie ihm etwas verschwieg, etwas, das vielleicht auch ihre Freundinnen wussten und ihm nicht sagen wollten, entweder weil sie meinten, es hätte mit dieser Angelegenheit nichts zu tun, oder weil es sich um eines dieser Frauengeheimnisse handelte, die sie niemandem erzählen wollten und einem Polizisten schon gar nicht.
    Er hoffte, dass keine von ihnen in die Sache verwickelt war. Ana wäre am Boden zerstört, wenn sich herausstellen sollte, dass eine ihrer Freundinnen eine Mörderin sein könnte.
    Er blätterte die Protokolle der ersten Befragungen durch, um sich noch einmal zu vergegenwärtigen, was er bereits wusste: Teresa hatte außerhalb ihrer Sprechzeiten einen Termin mit einer Patientin gehabt, die sie bezüglich eines möglichen Kaiserschnitts beraten wollte, weil die Geburt zu lange auf sich warten ließ. Carmen war im Fitnessstudio gewesen, zusammen mit zwei Dutzend Frauen aller Altersklassen. Candela lebte in Alicante und war mit ihrem Freund einkaufen gewesen. Rita war kurz vor acht bei Lenas Haus angekommen, das hatte ein Nachbar bestätigt. Zwischen sechs und halb acht war sie in einem Blumenladen und in einem Supermarkt gesehen worden, wo sie den Wein gekauft hatte, den sie ihrer Freundin mitbringen wollte. Und Ana verfügte zum Glück über acht Kinder und mehrere Mütter und Väter, die bezeugen konnten, dass sie das Haus nicht verlassen hatte.
    Es sah ganz so aus, als würde man den Mörder außerhalb von Lenas engstem
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