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Tochter der Nacht

Tochter der Nacht

Titel: Tochter der Nacht
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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mußte nicht nach einer Höhle, einem Felsen oder einem ge-eigneten Busch suchen. Zu Hause verschlief er die Sonnenaufgänge hinter seidenen Vorhängen, und wenn sich die Jagd so lange hinzog, daß er den Sonnenuntergang erlebte, betrachtete er dies nur als lästigen Aufschub des abendlichen Gelages. Hier boten ihm nur Himmel und Sterne Unterhaltung. Während Tamino dort lag und in den klaren Wüsten-himmel über sich blickte, erinnerte er sich wieder. Vor vielen Jahren, als man ihn noch unterrichtete, hatte er einen Lehrer, der versuchte, ihn in Sternenkunde zu unterweisen. Aber damals achtete Tamino kaum auf seine Worte, denn er dachte nur an seine Spiele und an das der Gefährten. Er hätte sich alles Wissen aneignen können, das die Menschen besaßen; er hätte erfahren, welchen Einfluß die Sterne, das Meer, die Gezeiten und die Wolken haben. Er hätte alles lernen können, was er vor Antritt dieser Reise hätte wissen sollen. Statt dessen mußte er es sich jetzt mühsam selbst aneignen, indem er die Gestirne beobachtete und entdeckte, welchen Einfluß sie auf seinen Weg nahmen.
    Man hatte ihn nicht zum Herrscher erzogen. Diese Aufgabe fiel seinem älteren Bruder, dem Kronprinzen, zu. Doch man hatte ihm eine gute Bildung vermittelt. Nicht seinen Vater traf die Schuld daran, daß er dies damals nicht zu würdigen wußte…
    Morgen lag wieder ein Reisetag vor ihm, und vielleicht brachte er ihn seinem unbekannten Ziel näher. Tamino trank einen letzten kleinen Schluck aus dem Wasserschlauch (sein Mund war trocken, und er hätte ihn nur allzu gern bis auf den letzten Tropfen geleert). Aber diesen Fehler hatte er gleich zu Anfang seiner Reise begangen und dabei gelernt, so lange einen Rest Wasser aufzubewahren, bis er sicher war, es ersetzen zu können. Sorgfältig band er den Wasserschlauch wieder zu, legte ihn sich als Kissen unter den Kopf und schlief ein.
    Das erste Licht des neuen Tages weckte ihn. Den Himmel überzog ein leuchtendes Rot, eine bedenkliche Farbe.
    Inzwischen wußte Tamino, daß dies Regen oder Sturm bedeutete. Doch in den zehn Tagen, in denen er durch diese Wüste gewandert war, hatte es kein einziges Mal geregnet.
    Würde er erleben, daß es hier regnete, oder bedeutete ein roter Himmel in der Wüste etwas anderes als das Morgenrot in einer freundlicheren Umgebung? Es schien, als solle er etwas Neues über das Wetter lernen.
    Ein paar Tropfen Wasser aus dem Schlauch und die letzten wenigen Früchte waren sein kärgliches Frühstück. Wenn er den Tempel der Weisheit erreichte, wo er sich den unbekannten Prüfungen unterziehen sollte, würde man ihm hof-fentlich vorher noch ein gutes Mahl vorsetzen.
    Aber jetzt und hier gab es nichts zu essen, weder etwas Gutes noch überhaupt etwas, wenn er es sich nicht selbst be-schaffte. Und in dieser Einöde würde es wahrscheinlich nichts geben. Hier lebten nur wenige Tiere – seit einigen Tagen hatte er, Tamino, nicht einmal mehr diese merkwürdigen Hörnchen gesehen – und es gab noch weniger eßbare Pflanzen. Doch am dringendsten brauchte er jetzt Wasser; der kärgliche Rest im Schlauch war abgestanden und schal.
    Er kannte die Qualen des Durstes gut genug und wollte diese Lektion nicht wiederholen.
    Tamino blickte sich um und versuchte, sich zu orientieren.
    Im Osten erhob sich die Sonne gerade aus einem Meer leuchtendroter Wolken. Am Horizont zeichneten sich kaum sichtbar ein paar kantige Formen ab – wahrscheinlich Felsen oder vielleicht, Tamino stockte der Atem, Gebäude. Es wäre die erste menschliche Siedlung, seit er die Stadt seines Vaters verlassen hatte.
    Aber es war noch weit bis dorthin. Sie lagen am fernsten Horizont. Vor einem Monat wäre er vielleicht, getäuscht von der klaren Wüstenluft, dem Irrtum verfallen, zu glauben, er könne die Gebäude in weniger als einer Stunde erreichen.
    Inzwischen wußte er, daß sie sich einen Tagesmarsch oder noch weiter entfernt befanden. Wie aufregend der Gedanke an ein Zusammentreffen mit Menschen auch sein mochte, zuerst mußte er seine Vorräte an Nahrung und Wasser er-gänzen. Dann blieb Zeit genug, an die Gebäude zu denken –
    falls es sich tatsächlich um Bauwerke handelte und nicht um merkwürdige Felsformationen. Er hatte sich schon einmal täuschen lassen und geglaubt, eine Stadt zu sehen, die sich dann nur als Felstürme und Felswände herausstellte.
    Tamino schob den Gedanken an Gebäude beiseite und wandte den Blick in die anderen Richtungen. Er wollte herausfin-den, ob in der näheren
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