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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt
Autoren: Kilian Leypold
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zurückgehen, wenn es geht?«
    »Kommt Zeit, kommt Rat.« Tante Tiger räkelte sich.
    »Als Sie vorhin so laut gebrüllt haben, ähm, ist da was in Ihrem Inneren locker geworden?«, hakte Jonas nach.
    Ein Schlag traf ihn an der Schulter. Er fuhr herum. Lippe hatte ihn auf den Oberarm geboxt und grinste. »Hey Nase.« Er beugte
     sich ganz nah an Jonas’ Ohr, sodass seine krausen Haare Jonas kitzelten. »Tante Tiger ist fast achtzig, viel älter geht’s
     nicht, sie muss selbst wissen, was sie tut.«
    Jonas wollte etwas sagen, aber da erhob sich Ulla |246| mit einer fließenden Bewegung und breitete eine Decke vor Tante Tiger auf dem Boden aus. »Die Nacht ist nicht mehr lang«,
     sagte er. »Nase und Lippe können schlafen, solange es noch kühl ist. Die Tante und ich werden euch bewachen.«
    Jonas war hundemüde, Lippe gähnte auch schon. Sie erhoben sich von dem Schlitten, sanken auf die Decke und schmiegten sich
     in das weiße zottige Bauchfell. Tante Tiger machte sich rund und legte ihre Pranken um sie herum. Sie lagen wie in einem Nest.
     So geborgen hatte sich Jonas lange nicht mehr gefühlt. Selbst der strenge Raubtiergeruch hatte etwas Vertrautes. Er schlief
     schon fast, da hörte er Tante Tigers Stimme. Fast war es, als ob sie aus dem Bauch käme, an den er seine Wange presste. »Wisst
     ihr, schlimmer als die Schmerzen und die morschen Knochen ist die Einsamkeit. Der Mann, die Freunde, die Geschwister sind
     tot oder fast tot, und da ist keiner mehr, mit dem man richtig reden kann, weil es niemanden mehr gibt, der sich an dieselben
     Dinge erinnert wie ich … Oft bin ich allein mit meinen ganzen Erinnerungen in der Keunerstraße gesessen und habe mich immer
     wieder gefragt, warum ich mir überhaupt noch die Mühe mache, Kartoffeln zu schälen oder Tee zu kochen …«
    Jonas hörte das alles und wollte etwas sagen, wollte sagen: ›Wir sind doch da, wir kommen Sie besuchen.‹ Aber es ging nicht,
     es war, als ob er schon bis zur Nase im Schlaf steckte, die Lippen konnte er schon nicht mehr bewegen, nur seine Ohren hörten
     noch: »… Und jetzt, wo ich auch noch Herrn Teichmann |247| verloren habe, was soll ich da den ganzen Tag? Warum soll ich noch vor die Tür gehen? Was bleibt, ist stricken, stricken,
     stricken. Einen immer längeren und längeren rosa Schal. So lang, dass er bis an mein Lebensende reicht. Wolle hätte ich genug.
     Soll ich dahin zurück? … ›Zur Mittagsstunde bin ich stark‹, hat Funakis mir ins Ohr geraunt. ›Dann kannst du zurück, wenn
     du willst. Wenn nicht, dann bleib und geh auf die Jagd.‹ Dann hat er mich von seiner Schulter gehoben, als ob ich eine Feder
     wäre.«
    Jonas gelang es mit einer letzten ungeheuren Anstrengung, ein Augenlid zu heben und einen Blick auf das bläulich schimmernde
     Zifferblatt an seinem Handgelenk zu werfen: Es war fast drei Uhr nachts. In neun Stunden würde es zwölf Uhr sein, die Mittagsstunde
     …
    Ihm fielen endgültig die Augen zu und er sank in das tiefe rhythmische Schnurren wie in ein riesiges nachtblaues Federbett.

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    |248| Zwerg Nase schlägt zu
    Es kitzelte und krabbelte in der Nase. Jonas dachte zuerst, eine geträumte Fliege würde ihm ins Nasenloch kriechen, und er
     versuchte, etwas anderes zu träumen, irgendwas, nur ohne diese lästige Fliege – es ging nicht. Also öffnete Jonas die Augen
     und sah nichts als blaugrünschillernde Schlieren und violette Punkte. Als er blinzelte, zitterten die Punkte und entfernten
     sich.
    Ein Schmetterling, dessen Flügel so groß waren wie Hände, schwebte direkt über Jonas’ Gesicht. Jetzt torkelte der Schmetterling
     nach links, Jonas folgte ihm mit den Augen und entdeckte Lippe. Sein bleiches Gesicht war entspannt, die Augen geschlossen;
     er schlief noch. ›Nicht mehr lange‹, dachte Jonas, als der Schmetterling sich auf Lippes Stirn niederließ.
    Jonas wandte sich nach rechts und sah den Tigerschädel, der auf den beiden Vordertatzen ruhte. Auch Tante Tigers Augen waren
     geschlossen. Jonas sah auf seine Armbanduhr: Es war kurz vor zehn. Er setzte sich auf, streckte sich, gähnte und sah sich
     um.
    Der Winkel zwischen den Mauern lag noch im Schatten, trotzdem lief Jonas schon der Schweiß über den Rücken. Seine Kehle war
     rau und trocken. Er stand auf. Die Ohren des Tigers zuckten und ein gelbes Auge blinzelte Jonas an.
    |249| »In zwei Stunden ist es Mittag«, sagte Jonas.
    Das Tigerauge schloss sich wieder.
    Jonas nahm aus seinem Rucksack das Stück Seife,
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