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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen
Autoren: Khaled Hosseini
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nicht eingetroffen sei, der Wiederaufbau nicht schnell genug vorangehe und wieder Korruption um sich greife, dass sich die Taliban neu formierten und auf Rache sännen und dass die Welt einmal mehr Afghanistan vergessen werde. Die Zeilen stammen aus seinem Lieblingsgedicht von Hafis:
Jusuf kehrt nach Kanaan zurück – traure nicht,
aus Ödnis werden Rosen sprießen – traure nicht.
Und steigt auch eine Flut, die alles Leben nimmt,
führt Noah durch den Sturm – drum traure nicht.
    Laila geht unter dieser Tafel hinweg ins Klassenzimmer. Die Kinder nehmen ihre Plätze ein, kramen ihre Hefte hervor und plappern. Aziza schwätzt mit einem Mädchen am Nebentisch. Ein Papierflugzeug segelt durch den Raum. Jemand wirft es zurück.
    »Schlagt eure Farsi-Bücher auf, Kinder«, sagt Laila und legt ihre eigenen Bücher auf das Pult.
    Während die Seiten rascheln, tritt Laila an das vorhanglose Fenster. Im Hof sieht sie die Jungen Freiwürfe üben. Im Hintergrund steigt die Morgensonne über den Berggrat. Ihr Licht glitzert auf dem Metallgestänge des Basketballkorbs, den Kettengliedern der Schaukel, der Trillerpfeife, die Zaman an einer Schnur um den Hals hängt, und auf seiner neuen, blitzblanken Brille. Laila legt ihre Hände an die warme Scheibe. Sie schließt die Augen und wendet das Gesicht der Sonne zu.
    Bei ihrer Rückkehr nach Kabul war Laila untröstlich, weil sie nicht in Erfahrung bringen konnte, wo Mariam begraben liegt. Sie hätte ihr Grab allzu gern aufgesucht und mit Blumen geschmückt. Jetzt hat sich der Kummer gelegt. Für sie ist Mariam ohnehin immer in der Nähe. Sie ist hier, zwischen den frisch gestrichenen Wänden, in den neu gepflanzten Bäumen, in den Wolldecken, die die Kinder wärmen, in diesen Kissen und Büchern und Stiften. Im Lachen der Kinder. In den Versen, die Aziza aufsagt, und in den Gebeten, die sie, nach Westen gewandt, vor sich hin murmelt. Vor allem aber ist Mariam in ihrem eigenen Herzen, wo sie so hell wie tausend Sonnen leuchtet.
    Laila bemerkt, dass jemand nach ihr gerufen hat. Sie dreht sich herum und richtet unwillkürlich das gesunde Ohr nach vorn. Es ist Aziza.
    »Mami? Geht’s dir nicht gut?«
    Es ist still geworden. Die Kinder beobachten sie.
    Laila will gerade antworten, hält aber plötzlich die Luft an. Sie greift sich an den Unterleib, durch den soeben eine warme Welle gefahren ist. Sie wartet.
    »Mami?«
    »Doch, mein Liebling.« Laila lächelt. »Mir geht es gut. Sehr sogar.«
    Als sie auf ihr Pult zugeht, denkt Laila an das Namensspiel, mit dem sich die Familie auch gestern wieder am Esstisch die Zeit vertrieben hat. Seit Tarik und die Kinder Bescheid wissen, wird allabendlich gestritten, und jeder versucht, seinen Vorschlag durchzusetzen. Tarik favorisiert Mohammad. Zalmai, der kürzlich Superman auf Video gesehen hat, kann nicht verstehen, warum nicht auch ein afghanischer Junge Clark genannt werden kann. Aziza macht sich für den Namen Aman stark. Laila fände Omar schön.
    In dem Spiel geht es ausschließlich um Jungennamen. Denn falls es ein Mädchen wird, steht für Laila der Name längst fest.

Nachwort
    Seit fast drei Jahrzehnten ist die Situation der afghanischen Flüchtlinge eine der dramatischsten der Welt. Krieg, Hunger, Gesetzlosigkeit und Unterdrückung zwangen Millionen Menschen – wie Tarik und seine Familie in dieser Geschichte – ihre Heimat zu verlassen und aus Afghanistan zu flüchten, um sich im benachbarten Pakistan oder im Iran niederzulassen. Auf der Höhe der Auswanderungswelle lebten mindestens acht Millionen Afghanen als Flüchtlinge außer Landes. Derzeit befinden sich noch mehr als zwei Millionen afghanische Flüchtlinge in Pakistan.
    Seit 2002 konnten fast fünf Millionen Flüchtlinge mit Hilfe der UNHCR, des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen, in ihre Heimat zurückkehren. Im September 2007 habe ich einige dieser Heimkehrer in Nord-Afghanistan besucht. Ich begegnete Familien, die von weniger als einem Dollar am Tag lebten. Sie hatten mehrere Winter eingepfercht in unterirdisch ausgehobenen Löchern verbracht. Ich besuchte Dörfer, in denen es alltäglich war, dass Familien sommers wie winters zehn bis fünfzehn Kinder verloren, die die klimatischen Extreme nicht überlebten. Die Menschen, die ich traf, tranken Wasser aus schlammigen Flüssen und starben dann an Krankheiten, denen man leicht hätte vorbeugen können. Sie hatten kaum Unterkünfte und keinerlei Zugang zu Einrichtungen des Gesundheitswesens, zu Schulen,
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