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Tarzan am Main

Tarzan am Main

Titel: Tarzan am Main
Autoren: Wilhelm Genazino
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Biere trinken und dann weiterziehen. Der Trinker von heute ist eine diskrete Suchtpersönlichkeit geworden, die ihr Laster kaum noch öffentlich zeigt – Extremfälle ausgenommen. Der Trinker erscheint spät mit der leeren Aktentasche, packt drei oder vier Flaschen ein – zahlt und trinkt zu Hause. Ob das ein Vorteil ist? Vermutlich nicht. In den eigenen vier Wänden ist die Schamgrenze am niedrigsten, die Toilette am nächsten, und der öffentliche Selbstverrat fällt ganz aus.

Ein Vorteil der Kleinmarkthalle ist , dass ihre Maße tatsächlich bescheiden sind. Sie hat zwei Eingänge, die gleichzeitig Ausgänge sind, dazu zwei Nebeneingänge, für die dasselbe gilt. Weil sie auch nicht spektakulär ist, wird sie auch keine Touristenattraktion. Man kann mit der Kleinmarkthalle nicht angeben. Wer hier reinkommt, will sich wirklich nur Kartoffeln, Radieschen oder ein neues Alpenveilchen kaufen. Und dann rasch wieder verschwinden, ohne sich durch ein Gedrängel durchkämpfen zu müssen. Ein zweiter Vorteil ist: Die Kleinmarkthalle befindet sich in der Innenstadt. Und weil auch die Innenstadt nicht groß ist, findet sie auch der unkundige Besucher schnell. Die Kleinmarkthalle ist beliebt. Es gibt Menschen, die (sozusagen) nur aus sozialhygienischen Gründen hier sind. Man sieht ihren angestrengten Gesichtern an, dass ihnen der Alltag zur Zeit heftig mitspielt, und deswegen bedürfen sie zwischendurch einer schnell wirkenden Belebung, die nichts kostet und den ganzen Körper ergreift. Es sind lebensfrohe Anblicke: eine saftige Schinkenkeule, ein Berg von Orangen, eine große Forelle, belgische Pralinen, Austern und Muscheln. Längs der hinteren Wand haben sich mehr und mehr – wie soll man sie nennen? – fliegende Kleinlokale eingerichtet. Fastfoodbistros sind es nicht, es wird richtig gekocht und zubereitet. Der Platz reicht nur für winzige Tische und winzige Stühle, da und dort sind es auch Barhocker und entsprechend hochgestellte Tische. Hierher kommen junge Ehepaare mit Kindern, die in der Stadt schon eine Menge Geld ausgegeben und plötzlich das Gefühl haben, dass sie mal wieder ein bisschen sparen müssten. Aber die Ehefrau soll für den anstrengenden Tag nicht bestraft werden, indem sie jetzt auch noch kochen muss. Die Familie sucht sich einen Stand, an dem es halbe Hähnchen, Pizza oder Würstchen mit Salat gibt. Ein dritter Vorteil ist, die Kinder müssen hier nicht beaufsichtigt werden. Sie haben genug zu gucken, außerdem gibt es überall Kostproben: Schokolade, Marzipanrüben, Pralinen, Zuckerwatte. Die Eltern klettern auf zwei Barhocker und wissen nicht recht, ob sie für die Kinder mitbestellen sollen. Die Kinder sind sowieso viel zu aufgeregt, um an das Mittagessen zu denken. Sie rennen herum und winken zwischen den Ständen hervor.

Die moderne Stadt bringt kaum noch bemerkenswerte ästhetische Reize hervor, die von den Menschen ein längeres Verweilen fordern. Die Straßen ähneln einander, die modernen Zweckbauten ebenfalls. Die Schlichtheit als Struktur herrscht nicht nur in Köln oder Hannover oder Stuttgart, sondern auch in Frankfurt, und in Frankfurt besonders. Die Gesichtslosigkeit der Moderne wird oft beklagt, ist aber unaufhebbar. Der Hauptgrund der Gleichförmigkeit liegt in den Kriegsfolgen, was immer mal wieder vergessen wird. Denn die meisten der neuen Bauten stehen noch nicht allzulange und erinnern doch nicht mehr an den Zweiten Weltkrieg. Damals, Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre, wurden die zerstörten Städte im Hauruck-Verfahren schnell und ideenlos wieder aufgebaut. Der Wiederaufbau geriet lieblos, weil die notleidenden Menschen nicht lange warten konnten. Es fragte damals niemand nach irgendwelchen ästhetischen Erwartungen. Im Gegensatz etwa zur Gründerzeit gab es keinen irgendwie bedeutsamen Stil, in dem sich die Zeit hätte spiegeln und gleichzeitig über sich selbst hätte hinausweisen können. Um den Zweckstil der fünfziger Jahre zu vermeiden, hätte es einer allgemeinen Willensbildung und einer ebensolchen Willensäußerung bedurft, die in der Ratlosigkeit der fünfziger Jahre nicht zu haben waren. Übrig geblieben von dieser Not ist ein geringes Angebot an neuen Sehenswürdigkeiten; sie zwingt die Stadt und ihre Bewohner, ohne Anleitung und ohne fremde Hilfe selbstentdeckte Sehenswürdigkeiten aufzuspüren. Das kann gelingen, kann aber auch schiefgehen. Bis heute kann man am Durcheinander der Innenstädte ablesen, dass es keine Instanz gab, die die
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