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Sternenschatten

Sternenschatten

Titel: Sternenschatten
Autoren: Sergej Lukianenko
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unbedingt ins Steinzeitalter zurückwerfen. Wir können auch …«
    Er brannte ein wahres Feuerwerk an Möglichkeiten, Vorschlägen und Alternativen ab. Beziehungen zwischen gleichberechtigten Partnern, Freundschaft, Hilfe … schließlich wird die Erde momentan von anderen Rassen völlig unterjocht … All das, was mir mein Großvater schon gesagt hatte, als er mir vorschlug, das kleinere Übel zu wählen. Die Welt der Geometer sei nicht statisch, sie entwickle sich. Ob sie denn so schlecht sei? Und ob ich mich dafür verbürgen könne, dass die Erde nach gerechteren Gesetzen lebe?
    Ja, vielleicht hast du in gewisser Weise sogar recht, Big. Eure Welt sucht sich ihren Weg. Genauso unbeholfen wie unsere, aber immerhin widersetzt sie sich dem Schatten mit seiner gleichgültigen Laissez-faire-Haltung.
    Und ich habe wirklich kein Recht, euch in den Schatten zu treiben, vor dem ihr so verzweifelt geflohen seid. Denn in mir steckt nicht dein Glaube, der dafür jedoch nötig wäre.
    Alles, was er jetzt sagte, war im Grunde gar nicht für mich gedacht. Ich würde ihm sowieso nicht entkommen.
    Aber ich musste mich ergeben und meinen Fehler vor diesen Jungen eingestehen, denen ich hatte weismachen wollen, ihre Welt sei unvollkommen.
    »Gehen wir … gehen wir, Niki …«
    Das hätte er lieber nicht sagen sollen. Er verzog das Gesicht, als wollte er sich für seine Worte entschuldigen. Aber Nik Rimer in mir erschauderte und kam heraus.
    »Der Altruist Big«, sagte ich. »Warum hast du etwas gegen diesen Spitznamen? Schließlich nennen wir dich mit gutem Grund so. Du hast immer auf den besten Entscheidungen bestanden, den geringsten Verlusten, und Geduld gegenüber fremden Bräuchen gefordert. Aber deinen Spitznamen magst du nicht …«
    »Pjotr!«
    »Nik. Nik Rimer. Du hast recht, Pjotr Chrumow kann für unsere Welt keine Entscheidung treffen. Aber ich, ich schon.«
    Nik Rimer warf den Samen hoch. Er warf ihn hoch – und fing ihn wieder auf. Der Feuerball sprühte spitze Funken.
    »Du hast recht, Big, ein einfacher Mensch kann diese Entscheidung kaum treffen. Die Entscheidung, die ganze Welt zu ändern. Für diese normalen Menschen gibt es den Schatten. Aber wir sind ja schließlich Regressoren. Wir sind daran gewöhnt, für ganze Welten zu entscheiden. Das ist ein bemerkenswertes Gefühl, nicht wahr?«
    Ich wartete die ganze Zeit, dass Big auf mich losstürzte. Denn er hatte gewaltsame Entscheidungen niemals gemieden, sein Altruismus hatte ihm diesen Weg durchaus nicht versperrt. Aber noch glaubte er einfach nicht, Nik vor sich zu haben.
    »Ob wir deshalb vor dem Schatten geflohen sind? Nicht nur, weil die fremden Welten, die nach ihren eigenen Bräuchen leben, eine Beleidigung für uns darstellen. Sondern einfach weil im Schatten … jeder entscheidet … wenn auch nur für sich selbst.«
    »Tu das nicht, Niki! Fall nicht in deine kindliche Rigorosität zurück. Die Heimat braucht den Schatten nicht.«
    »Wir sind längst im Schatten untergegangen, Big. Wir alle. Seit dem Tag, als das Wort eines Älteren für uns zum Gesetz geworden ist. Seit wir uns daran gewöhnt haben, den Ausbildern vorbehaltlos zu glauben … seit wir in den Lehrern Götter erkannt haben, seit wir in jedem, den wir trafen, einen Freund gesehen haben und jeden Stern als Herausforderung auffassten. Wir haben dafür gesorgt, dass unsere Blindheit ewig währt. Aber ich ertrage nichts, was ewig währt, Big! Neulich, vor gar nicht langer Zeit, habe ich meinem Schiff ein Gedicht vorgetragen. Willst du es auch hören, Big? Als Zuhörer taugst du nicht weniger als mein Schiff, trotzdem habe ich dir nie meine Gedichte vorgetragen …«
    Big schwieg. Doch Nik Rimer, der seine Gedichte niemals, seit seiner weit zurückliegenden Kindheit nicht, anderen vorgetragen hatte, fing an:
     
    »In der Jugend
    scheint die Kindheit fern
    dem Heranwachsenden verhasst
    und er will ihre Stimme nicht hören
    die Stimme der Kindheit
    das bin nicht mehr ich sagt er
    das ist ein kleiner Junge der nicht weiß was er sagt
    aber der Kleine sagt stets was er weiß
    selbst und zumal wenn er schweigt
    Der Heranwachsende wird älter
    nicht alle Schreie hat er abgewürgt
    nicht jedes Lachen jede Träne erstickt
    Die Pädagogen
    wollen ihn ins große Einerlei stoßen
    er will nicht im Gleichschritt denken
    er will nicht auf Befehl träumen
    er will die Kindheit.«
     
    Nik Rimer lachte, er zwinkerte dem Jungen Till zu.
    Der Samen stieg abermals in die Luft auf. Big behielt ihn im Auge,
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