Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)
akademisch gegeneinandergesetzt; sondern Chopin geleitet diese Musik gewissermaßen durch die Zeit und steigert wunderbar einfallsreich. Seine Freunde nannten die Ballade damals Die Polnische. Robert Schumann mochte sie von allen Chopin-Werken am liebsten. Chopin selbst übrigens auch. In dem oscarprämierten Film Der Pianist von Roman Polanski spielt der jüdisch-polnische Pianist Wladyslaw Szpilman einem deutschen Offizier minutenlang in Todesangst genau dieses Stück vor. Es handelt sich um die dramatische Schlüsselszene des Films, anrührend
und grausam zugleich. Die Ballade wird zum Symbol für die Rettung, das Überleben.
Und die vierte Ballade? Ist sie in der Komposition und in den musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten nicht doch facettenreicher als die erste? Ich meine nicht. Ich verstehe gut, dass Horowitz immer wieder auf die Ballade Nr. 1 zurückkam und sie auch vier oder fünf Mal aufgenommen hat. In einer Radiosendung habe ich einmal alle Aufnahmen miteinander verglichen und erstaunt festgestellt, dass sich Horowitz auch in der letzten Einspielung noch viele Details einfallen ließ, auf die er zuvor nicht gekommen war. Ich nenne jetzt eine Taktzahl, und zwar Takt 138. Danach setzt ein virtuoses Intermezzo ein. Wie Horowitz da aus den Begleitstimmen neue Zutaten entwickelt, das finde ich beispiellos. Das macht einen ehrfurchtsvoll gegenüber einem Künstler, der sein Leben lang das Gleiche spielt und keine Sekunde daran denkt, dass es immer dasselbe sei. Natürlich stellt auch die vierte Ballade ein Meisterwerk dar, aber das Hauptthema erschöpft sich in traurigen Kreisen. Es ist weniger stark, weniger facettenreich als das Thema der g-Moll-Ballade. Zudem weist die vierte Ballade eine kleine Schwäche auf. Die Coda, also die Schlusssteigerung, ist zwar sehr wild, aber sie wirkt leicht aufgesetzt und entwickelt sich nicht so organisch wie in den ersten drei Balladen. Deshalb kann ich gut nachvollziehen, dass Horowitz zeitlebens die Ballade Nr. 1 – die kraftvollste und schönste – in seinen Konzerten bevorzugt hat.
Die Männer waren auch mal besser
Was macht einen Heldentenor aus?
Heldentenöre gehören zu Wagner-Opern wie das Alpenglühen zur Zugspitze. Wieland Wagner hätte die 1951 auf dem Grünen Hügel neu eröffneten Bayreuther Festspiele – ich erlebte sie als blutjunger Kritiker, damals gerade 23 Jahre alt – nicht in Szene setzen können ohne einen heldischen Tenor wie Wolfgang Windgassen. »Mein Held«, pflegte der Wagner-Enkel seinen Lieblingstenor anzureden. Der beherrschte alle Wagner-Partien sicher und souverän. Er gab einen großartigen Tannhäuser, das war seine Paraderolle. Er war zudem ein recht guter Lohengrin, ein relativ überforderter Tristan und ein schrecklich unheldischer Siegfried.
Damals, im Nachkriegsdeutschland, tobte noch ein wilder Kampf um die Salonfähigkeit von Richard Wagners Musik. Darf man Kompositionen eines antisemitischen und von Adolf Hitler verehrten Künstlers überhaupt ernst nehmen? Festivalleiter und Regisseur Wieland Wagner nahm ihn sehr ernst – und propagierte eine stilistische Erneuerung. Sein Inszenierungsstil, gekennzeichnet durch Abstraktion, suggestive Lichtregie und expressiv verdichtetes Bühnengeschehen, wurde zum immer wieder kopierten Modell für Operninszenierungen bis in die 1970er Jahre.
Was gehört nun zu einem hochdramatischen Tenor? Erstens: ein strahlender Glanz, auch in der Höhe, wobei das hohe C gar nicht so wichtig ist. Zweitens: intelligente Phrasierung. Drittens, und am dringlichsten und schwersten herzustellen: Ausdauer. Wer keinen so langen Atem hat wie einst Franz Völker oder Lauritz Melchior, der muss mit seinen Kräften haushalten. Es ist wenig heldenhaft, wenn Volumen und Modulationsfähigkeit nachlassen oder man zu japsen anfängt, weil man nicht über die Runden kommt.
Wenn beispielsweise Wolfgang Windgassen den Tristan sang und er sich im ersten und zweiten Akt noch stark zurückhielt, um für die Sterbeszene im dritten Akt gut gerüstet zu sein, dann bewegte er sich manchmal an der Grenze des Komischen. Er sprach mehr, als er sang. Und erwischte Wolfgang Windgassen keinen großen Tag, gewann man sogar den Eindruck, er würde sich in den ersten drei Akten für einen imaginären vierten schonen.
Wagner gehört zu den wenigen Komponisten, die schon zu Lebzeiten sehr erfolgreich waren. Sein Lohengrin wurde damals bereits in 80 verschiedenen, zum Teil klitzekleinen Städten, aufgeführt. Wie
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