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Späte Familie

Späte Familie

Titel: Späte Familie
Autoren: Zeruya Shalev
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frage ich den Fahrer, und er sagt, ich bin bestellt worden, haben Sie mich bestellt? Ich sage, nein, aber tun Sie mir einen Gefallen, bringen Sie mich zur Stadtmitte, das ist wirklich nicht weit, und er sagt, warten Sie einen Moment, mal sehen, ob es auf meinem Weg liegt, und da nähert sich mit schnellen Schritten ein kräftiger Mann in dunklem Anzug, mit ordentlich frisierten weißen Haaren, mit welcher Eile muss er sich die kurze Hose ausgezogen und seinen beherrschten Ausdruck wieder angenommen haben, wie sorgfältig hat er darauf geachtet, unser Gespräch pünktlich zu beenden, während ich geglaubt habe, ich hätte es getan, und da gleitet er auch schon in das Taxi, das ihn erwartet, winkt mir gleichgültig zu, als wäre ich eine seiner Studentinnen, deren Namen er vergessen oder noch nie gewusst hat, und ich bleibe am Straßenrand stehen, miteinem vollkommen Fremden wäre ich ins Taxi gestiegen, aber nicht mit dir, Vater, dieses einfache Wort kränkt mich wie das lapidare Bellen eines Hundes, wenn man gerade eine Explosion gehört hat, Vater, Vater, bellen die Hunde zwischen dem Explosionsgeräusch und dem Heulen des Krankenwagens, Vater, Vater, was hast du zu mir gesagt?
    Er wird nicht überleben, er wird ausgelöscht werden, hast du gesagt, als handelte es sich um das Schicksal alter Völker aus der Vorzeit, Hethiter, Babylonier, Sumerer, Akkadier, ganze Imperien, die vom Erdboden verschwunden sind, aber hier handelt es sich um einen kleinen, kaum sechsjährigen Jungen, der noch nicht gelernt hat, Fahrrad zu fahren, und dem es schwer fällt, sich die Schnürsenkel zu binden, einen Jungen, der sich vor der Dunkelheit fürchtet, und ich glaube seine Stimme zu hören, nachts, wenn er schlecht geträumt hat, laut und erschrocken, Mama, Mama, komm, komm schnell, und ich komme, meine Sohlen schlagen auf den warmen Asphalt, ich muss ihn sehen, ihn vor der Katastrophe retten, die hier verkündet wurde, auf dem Gipfel dieses Treppenbergs, der in Wolkendunst gehüllt ist wie der Berg Horeb.
    Wie eine Frau, deren Haus brennt, renne ich durch die Straßen, verbreite Unruhe um mich, streue Schrecken in die Herzen der Vorübergehenden, als hätte mich eine geheime Nachricht erreicht und triebe mich vorwärts, die Nachricht von einem nahen Anschlag, einem Erdbeben, eine Schleppe beunruhigter Blicke begleitet mich, und irgendwie scheine ich nicht vom Fleck zu kommen, die grauen Straßen halten mich fest wie lästige Greise.
    Eine Radfahrerin mit kurzen Haaren strengt sich bei der Steigung an, ihre Bluse ist so feucht wie Amnons Hemd am Morgen, wie sorgfältig hat er es wohl zugeknöpft und mit den Händen glatt gestrichen, als er an der Tür des Hausesstand, vor dem ich jetzt fliehe, bevor er mich mit frommer Miene an die Obrigkeit verriet, und ich vergrößere meine Schritte, schaue mich misstrauisch um, es kommt mir vor, als liefe ich nicht allein durch die Straßen, denn in diesem Moment ist auch der Fluch meines Vaters auf die Straße gelangt, und mit ihm laufe ich um die Wette, ihn muss ich besiegen, ihn, der mit schwarzen Flügeln neben mir fliegt, und auch wenn meine Rippen schmerzen und meine Knie nachgeben, ich muss vor ihm ans Ziel kommen, denn dort wartet ein kleiner Junge auf mich, kaum sechs, der sich weigert, sich die Haare schneiden zu lassen, der Sonne in den Augen hasst, dessen Eltern sich gestern getrennt haben.
    Aus den offenen Fenstern der Klassenzimmer dringt Schullärm wie Meeresbrausen, mit wilder Kraft, Hunderte von Kindern sitzen auf kleinen Stühlen, halten Bleistifte und Farben in den Händen, und eines von ihnen gehört mir, und ich muss es sofort sehen, und ich werfe mich gegen das Tor, versuche, es aufzudrücken, aber zu meiner Überraschung ist es abgeschlossen, ein großes Schloss hängt daran, und darüber ein Schild mit ungelenker Handschrift, der Wachmann macht seine Runde, bittet um Ged. Die letzten Buchstaben sind verwischt wie auf einer alten Inschrift, niemand macht sich die Mühe, sie zu ergänzen, und hundert Jahre später werden die Forscher vielleicht stirnrunzelnd die verschiedensten Interpretationen anbieten, bis eine weitere Inschrift gefunden wird, eine unbeschädigte, die ein Licht auf das Rätsel wirft, bittet um Ged, wie einfach hört sich das an, aber nicht für mich, nicht jetzt, und ich betrachte feindselig das Tor, das in einem provozierend fröhlichen
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