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Söhne und siechende Seelen

Söhne und siechende Seelen

Titel: Söhne und siechende Seelen
Autoren: Alper Canıgüz
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ersten doppelten Rakı kippte er in wenigen Schlucken hinunter. Das war nicht die Regel. Mein Vater gönnt sich jeden Abend ein Gläschen, aber doch langsam und gemächlich. Während er sich nachgoss und dabei vor sich hinfluchte, meinte meine Mutter: »Wir sind ruiniert, wir sind ruiniert.«
    Was immer uns auch ruinierte, meine Mutter war davon offensichtlich äußerst angetan. Meine Mutter kann ohne Kummer nicht leben. Katastrophen sind für sie ein Quell des Lebens. Ich glaube, dass sie sich unnütz vorkommt, wenn alles in Ordnung ist. Es gibt solche Leute. Aber eines muss man ihnen lassen: In wirklich schwierigen Situationen legen diese Leute eine erstaunliche Stärke an den Tag.
    »Was ist los?«, fragte ich.
    »Iss auch Salat, Junge«, lautete die Antwort meiner Mutter auf meine Frage.
    »Bring mich nicht auf die Palme, Mama!«
    »Nichts ist, Junge. Wir ziehen nach Erzurum.«
    Da hatten wir den Salat. »Warum? Haben sie in Erzurum ein neues Irrenhaus eröffnet?«
    Mit zickigen Bewegungen packte sie mir Salat auf den Tellerrand und sagte: »Dein Vater wird versetzt.«
    Ich wandte mich an meinen Vater. »Das geht auf Erdoğan Beys Konto, stimmt’s?«
    Sofort fuhr meine Mutter dazwischen. »Was kann er denn dafür? Sie haben den armen Mann um Mitarbeiter gebeten. Da muss er natürlich jemanden schicken.«
    Mein Vater strich mir über den Kopf. »Mach dir keine Sorgen. Wir gehen nirgendwo hin.«
    Meine Mutter glotzte ihn groß an. »Und was machen wir stattdessen?«
    Mein Vater verzog das Gesicht, als er den großen Schluck Rakı hinunterkippte. »Notfalls kündige ich.«
    »Du siehst das falsch«, meinte meine Mutter. »Beten wir, dass auch für mich schnell ein Posten frei wird. Es wird doch einer frei, oder? Wegen dem Ehestatus.«
    Wegen dem Ehestatus. Wegen dem Ehestatus war das Leben meines Vaters den Bach runtergegangen. »Ich kann nicht weggehen aus Istanbul«, sagte er mit herzerweichender Stimme.
    Mein Blick fiel auf das Etikett auf der Kulüp-Rakı-Flasche. Zwei elegant gekleidete Männer sitzen da und trinken. Manche vergleichen die beiden mit Atatürk und Ismet Inönü. Für mich ist der eine mein Vater, der andere Öztürk. Unverzichtbares Mitglied der Selaltı-Straßen-Gang, die seinerzeit Beşiktaş unsicher machte, und Blutsbruder meines Vaters. Öztürk, der nicht wie mein Vater den Kampf gegen das Leben, sondern gegen das Loch in seinem Herzen verlor, und das mit elf Jahren. Und auf diesem Bild kippten sich die beiden, frei von jeglichem Kummer über Zeit und Raum, einen hinter die Binde und schwelgten dabei in Erinnerungen an all ihre wunderbaren Abenteuer und ihre Jugend, in der sie sich etwa in Autoreifen, die sie an langen Seilen an Fährbooten befestigt hatten, im eisigen Wasser des Bosporus von einem Ufer zum anderen ziehen ließen. Niemand kann ihnen etwas anhaben. Weder dieser Arsch von Erdoğan noch sonst jemand.
    Wenn man mich fragt, dann ist es nicht Istanbul, von dem mein Vater sich nicht trennen kann, sondern Beşiktaş. Nachdem er den Fehler seines Lebens begangen und geheiratet hatte, bestand er lange darauf, dort zu wohnen. Aber da die Mieten auf der anatolischen Seite der Stadt erschwinglicher waren und sie näher an ihrem Arbeitsplatz wohnen würden, mieteten sie hier eine Wohnung. Dann schafften sie es nicht mehr, von hier wegzukommen. Mein Vater fuhr aber immer wieder nach Beşiktaş. Um seine alten Freunde wiederzusehen, die alle zu Spielbällen des Schicksals geworden waren. Das war seine einzige Verbindung zum Leben. Viel war es nicht, und nun wollten sie ihm auch das noch nehmen.
    »Ich sehe mir das Spiel an«, sagte mein Vater, als er sich mit dem dritten Doppelten, den er sich eingeschenkt hatte, vom Tisch erhob.
    »Du hast nichts gegessen«, sagte meine Mutter und blickte verletzt auf den noch vollen Dicke-Bohnen-Teller meines Vaters.
    Mein Vater erwiderte nichts. Er sank in das Sofa vor dem Fernseher. Ich setzte mich neben ihn. Er sah mich an und zwinkerte mir zu. »Wie wird das Spiel?« An dem Abend spielte Beşiktaş im Europacup. Wir würden garantiert verlieren. Ich legte meine Hand auf seine Schulter. »Drei zu null für uns.«
    Ich stand auf und half meiner Mutter beim Tischabräumen. Danach verzog sich meine Mutter wie immer ins Bad, mit den Worten, sie müsse noch etwas waschen. Umgehend begab ich mich in die Küche und machte mich daran, die Reste in den zig leeren Tekel-Bierflaschen, die hinter dem Kühlschrank standen, hinunterzukippen. Ich dachte an meinen
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