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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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einmal werden
    und so vernünftig wie Vater und Mutter
    Seit seiner eigenen Schulzeit hatte er dieses Lied niemanden mehr singen hören. War es von Alice Tegnér? Es gab so viele schöne Lieder, die einfach verschwunden waren, die keiner mehr sang. Überhaupt verschwindet alles Schöne.
    Der fehlende Respekt vor dem Schönen. Das kennzeichnete die Gesellschaft von heute. Die Werke der großen Meister wurden höchstens noch für ironische Anspielungen oder für Reklame genutzt. Zum Beispiel Michelangelos »Die Erschaffung Adams«, bei dem man an Stelle des Lebensfunkens eine Jeans eingefügt hatte.
    Das Entscheidende an dem Bild, so wie er es sah, waren diese beiden monumentalen Körper, die einzig in zwei Zeigefinger mündeten, die einander fast, aber eben nur fast berührten. Zwischen ihnen lag eine millimetergroße Leere. Und in dieser Leere: das Leben. Die mächtigen plastischen Dimensionen und der Detailreichtum des Freskos bildeten nur einen Rahmen, ein Beiwerk, um desto stärker den leeren Raum in seiner Mitte hervorzuheben. Den leeren Punkt, der alles enthielt.
    Und an seine Stelle hatte man nun also eine Jeans platziert.
    Es näherte sich jemand auf dem Weg. Er ging in die Hocke, das Blut pochte ihm in den Ohren. Nein. Ein älterer Mann mit Hund. Doppelfehler. Zum einen ein Hund, den man erst zum Schweigen bringen musste, zum anderen schlechte Qualität.
    Viel Lärm um nichts.
    Er sah auf die Uhr. In knapp zwei Stunden würde es dunkel sein. War innerhalb der nächsten Stunde keine passende Zielperson aufgetaucht, würde er den Erstbesten nehmen müssen. Er musste vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause sein.
    Der Mann sagte etwas. Hatte er ihn etwa gesehen? Nein, er sprach mit seinem Hund.
    »Jaaa, du musstest ja wirklich driiingend, meine Kleine. Wenn wir zu Hause sind, bekommst du Leberwurst. Eine dicke Scheibe Leberwurst bekommst du von Papa.«
    Der Halothanbehälter drückte gegen Håkans Brust, als er den Kopf in die Hände legte und seufzte. Diese armen Menschen. Diese armen, einsamen Menschen in einer Welt ohne Schönheit.
    Er fror. Der Wind war im Laufe des Nachmittags kalt geworden, und er überlegte, ob er seinen Regenmantel aus der Tasche holen und anziehen sollte, um sich vor ihm zu schützen. Nein. Der Mantel würde ihn unbeweglich machen, wenn er schnell sein musste. Außerdem erregte er in dem Mantel womöglich vorzeitig Verdacht.
    Zwei etwa zwanzig Jahre alte Mädchen gingen vorbei. Nein. Zwei schaffte er nicht. Er schnappte ein paar Gesprächsfetzen auf.
    »… dass sie es jetzt behalten will.«
    »… ist ein Idiot. Er muss doch begreifen, dass er …«
    »… ihre Schuld, weil … mit der Pille wäre das nicht …«
    »Aber er muss doch nun wirklich …«
    »… stell dir mal vor … der als Vater …«
    Eine Freundin, die ein Kind erwartete. Ein Junge, der sich seiner Verantwortung nicht stellen wollte. So war es. Immer und überall. Alle dachten nur noch an sich. Mein Glück, mein Erfolg war alles, was einem zu Ohren kam. Liebe heißt, einem anderen Menschen sein Leben zu Füßen zu legen, und dazu sind die Menschen von heute nicht mehr fähig.
    Die Kälte fraß sich in seine Glieder, er würde so oder so steif sein. Er schob die Hand in den Mantel, presste den Hebel des Druckbehälters. Ein zischender Laut. Es funktionierte. Er ließ den Hebel wieder los.
    Er schlug die Arme mehrfach um sich. Jetzt soll gefälligst jemand kommen. Allein. Er schaute auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde. Jetzt soll einer kommen. Der Liebe und des Lebens zuliebe.
    Doch im Herzen ein Kind will ich sein
    denn Kinder in Gottes Reich sind daheim
    *
    Es dämmerte bereits, als Oskar das ganze Buch durchgeblättert und alle Süßigkeiten aufgegessen hatte. Wie üblich nach so viel Süßem fühlte er sich vollgefressen und hatte vage Schuldgefühle.
    Mama kam erst in zwei Stunden. Dann würden sie essen. Anschließend würde er die Hausaufgaben in Englisch und Mathe machen. Danach würde er vielleicht ein Buch lesen oder mit Mama fernsehen. Heute Abend kam nichts Besonderes im Fernsehen. Dann würden sie Kakao trinken und Zimtschnecken essen, sich ein wenig unterhalten. Daraufhin würde er ins Bett gehen und aus Angst vor dem nächsten Tag nicht einschlafen können.
    Wenn er doch jemanden anrufen könnte. Er konnte natürlich Johan anrufen und hoffen, dass dieser nicht schon etwas anderes vorhatte.
    Johan ging in seine Klasse, und sie hatten eigentlich viel Spaß, wenn sie zusammen waren, aber wenn Johan die
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