Shadowdwellers - Frank, J: Shadowdwellers
lebten. Wegen seiner Position in der Regierung der Schattenbewohner war sich Trace der menschlichen Natur und deren Fähigkeiten wohl bewusst. Soweit er wusste, war die Fähigkeit, welche die Frau soeben unter Beweis gestellt hatte, eine erhebliche Anomalie. Wie alles andere an ihr bisher. War ihre ungewöhnliche Begabung eine Erklärung für die Abweichungen von den Regeln des Schattenreichs, die sie darstellte? Doch selbst wenn eine Menschenfrau in der wirklichen Welt mit ihren Händen heilen konnte, wie konnte sie diese Fähigkeit über die Trennlinie ins Schattenreich retten, wo Menschen mehr als Geist denn als Körper existierten?
Trace’ letzte Frage an sie war nicht als Beleidigung gemeint gewesen.
Er hatte ernsthaft wissen wollen, was sie war – was für eine Spezies, was für eine Gattung, was für eine Art von Schattenwandler, genauer gesagt, denn kein menschliches Wesen konnte über solche Kräfte verfügen wie sie.
Trotzdem hatte seine Frage sie sichtlich bestürzt, so als hätte er ihr eine schmerzhafte Ohrfeige verpasst. Der Anflug von Schmerz und Schock, der über ihr Gesicht und ihren jetzt steifen Körper lief, war unmissverständlich. Ashla riss sich heftig aus Trace’ Umklammerung und taumelte von ihm weg. Glas knirschte und rutschte unter ihr und brachte Trace mit aller Schärfe zu Bewusstsein, dass sie mit bloßen Füßen, Händen und Gliedmaßen über das Minenfeld von Scherben kroch. Trace versuchte sich aufzurichten, wollte sie aufhalten, doch sie war getrieben von inneren Dämonen, die er wahrscheinlich nicht verstanden hätte, und er war immer noch sehr geschwächt vom Blutverlust.
Doch er hatte auch mit einer tödlichen Verletzung am Rücken einen Feind besiegt, der viel schwerer und stärker war als er. Er war niemand, der Schwäche bei sich oder bei anderen akzeptierte.
In dieser Hinsicht verwirrte es ihn, weshalb es ihm so verdammt wichtig war, einem so empfindlichen, launischen Wesen nachzujagen. Doch genau das tat er gewissermaßen. Allerdings war es kaum eine Jagd, wenn er solche Mühe hatte, auf die Füße und dann zur Tür zu kommen, durch die sie geflüchtet war. Als er es schließlich hinausgeschafft hatte, war die Straße ringsum leer, und es gab nicht das kleinste Geräusch, das ihm einen Hinweis hätte geben können.
Trace knurrte leise vor Verärgerung.
Es würde ein mieser Tag für ihn werden.
Was bist du?
Der Satz dröhnte in ihren Ohren mit demselben Totengeläut, wie sie es in einem halben Dutzend ähnlicher Fälle erlebt hatte, und immer hatte diese hässliche Frage mitgeschwungen. Es war immer dazu gedacht, sie zu demütigen, ihr den Boden unter den Füßen wegzuziehen oder noch etwas Schlimmeres, also war es für Ashla unmöglich, es anders zu verstehen.
Tochter Satans.
Hexe.
Egal, wie oft sie sich zugeredet hatte, dass ihre Fähigkeiten ein Geschenk Gottes waren, es gab immer eine böse Stimme, meistens die ihrer Mutter, die ihr gemeine Anschuldigungen ins Ohr flüsterte, wie böse sie sei. Manchmal verwandelte sich das Flüstern in ein Schreien, schrill und geprägt von fiebrigem Fanatismus.
Sie ist eine Hexe, von Gott verflucht und die Mätresse des Teufels!
All diese Beschimpfungen hallten durch ihren Kopf und trieben sie dazu, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Mann zu bringen, der sie verdammt hatte. Erst als sie auf ihrer Flucht die Straße entlangrannte, wurde ihr bewusst, dass sie in dieser Umgebung, die so sehr ihrem eigentlichen New York glich, ohne andere Menschen zum ersten Mal die Möglichkeit gehabt hatte, in Frieden herumzulaufen und nicht das Gefühl zu haben, vor den anderen etwas verbergen zu müssen. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie nicht das Gefühl hatte, alle um sich herum anzulügen, ihr wahres Wesen zu verstecken aus Angst vor dem, was sie über sie denken oder ihr antun könnten.
Die ganze Zeit, die sie sich darüber beschwert hatte, dass sie so allein war, hatte sie im Grunde in Frieden verbracht.
Trace war Berater einer der mächtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten seiner Welt, und er war stolz auf seine Weitsicht und auf seine Fähigkeit, die Gedanken und Gefühle der anderen zu erspüren. Er konnte beinahe jedes Problem vorausahnen, mit dem schlichtere Gemüter nicht rechneten, besonders wenn es für das Wohl des ganzen Volkes entscheidend war. Doch verletzt und schwach, wie er war, hatte seine Wahrnehmungsfähigkeit ihn im Stich gelassen, und er war nicht schnell genug, um den
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