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Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)

Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)

Titel: Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)
Autoren: Mark Benecke
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schweren Hungersnot. Fast drei Millionen Ukrainer starben dabei. Von den Deutschen erwartete man nun Nahrung und Aufbauhilfe.
    Leider täuschte sich die Bevölkerung aber über die Ziele der Besatzer. Den Nazis ging es bloß um neuen »Lebensraum im Osten«. Zudem wollte man die deutsche Ernährung in der »Heimat« sichern. Das hatte Hitler schon 1924 im ersten Band seines Buches »Mein Kampf« vorgegeben. Nun wurde der Plan Wirklichkeit. Der Hunger der ukrainischen Bevölkerung wurde gezielt in Kauf genommen. Da eine der deutschen Begründungen des Krieges gegen die Sowjetunion und andere östliche Nachbarstaaten lautete, dass die dortigen »Menschenrassen« charakterschwach und weniger lebenswert seien, war das Aushungern der ukrainischen Bevölkerung für die Deutschen vertretbar. Es traf ja nur »minderwertige« Menschen.

    Die Besetzung und Ausbeutung der Ukraine (und anderer Gebiete im Osten) war ideologisch darin begründet, dass Hitler »Lebensraum« für Deutsche schaffen wollte. Wissenschaftlich bestand tatsächlich weit verbreitet die Ansicht, dass es menschliche »Rassen« gäbe, die bestimmte seelische Eigenschaften – hier: verschieden »hoch stehende« Verhaltensmuster – hätten. »Ostbalten« waren beispielsweise »verschlagen, rachsüchtig, knechtisch verbissen, lauernd und neigen zum Massengeist«. Die »nordische Rasse« sei hingegen »kühn, zielbewusst, entschlossen, edel, vornehm, heldisch und hat einen Drang zur Wahrhaftigkeit und ritterlichen Gerechtigkeit«. Wohlgemerkt: Diese Eigenschaften sollten erblich und nicht durch Umwelteinflüsse bedingt sein.
    Besonders im Süden und im Osten der Ukraine kam es durch die deutschen Besatzer zu schweren Hungersnöten – diesmal nicht nur durch sowjetische Fehlwirtschaft, sondern weil die Nahrungsmittel nach Deutschland abtransportiert wurden.
    Was Prokop davon persönlich miterlebte, ist nicht bekannt. Sicher ist, dass er »Ariergesetze«, in denen »Rassen« verschieden behandelt wurden, für »völlig irre« hielt. In einem Text, den er mit mir zu diesem Thema verfasste, findet sich in einem Korrekturbogen eine entsprechend eindeutige Anmerkung von ihm:

    Man muss allerdings politische und wissenschaftliche Annahmen, die uns heute als zusammengehörig erscheinen, scharf unterscheiden. So war es damals beispielsweise wissenschaftlich tragbar, Juden angeblich genetisch verankerte, verbrecherische Neigungen zuzusprechen, aber in Menschen aus »ostischen Rassen« (dazu gehörten auch die meisten Ukrainer) eine Art Zwischenstadium zu sehen, die in höher stehende »Rassen« als die Juden einzugliedern waren. Ob Prokop die Ukrainer also mochte oder nicht, wissen wir nicht. Was wir sicher wissen, ist, dass er jede allgemeine Verurteilung von Menschengruppen verabscheute. »Der Glaube an den Teufel«, so schrieb er 1974 an seinen Freund Gerd Uhlenbruck, »ist oft irrational: ›Plutokraten‹, ›die Juden‹, ›die Schwarzen‹, ›die Roten‹ – du willst hoffentlich nicht noch mehr hören.«
    Zudem waren nicht nur Nazis antisemitisch eingestellt. Auch in vielen anderen Ländern, darunter den USA, gab es antisemitische Bewegungen. Selbst in Polen fanden noch nach dem Zweiten Weltkrieg mehrere Judenvertreibungen und hunderte von Morden an Juden statt, etwa im Pogrom von Kielce (1946) und der »antizionistischen Kampagne« mit fast 15 000 aus Polen vertriebenen Juden zwischen 1967 und 1971.
    Noch undurchschaubarer wird das Geflecht der damals verbreiteten Lebenseinstellungen dadurch, dass nicht jeder Antisemit auch Rassist nach heutigem Maßstab war. Man unterschied in komplizierten Gebilden zwischen allen möglichen »Rassen« und wie sie in einem künftigen Großdeutschland mitwirken könnten oder eben nicht.
    Dass Prokop die Ariergesetze für »völlig irre« hielt, heißt also nicht, dass er andere Bereiche des uns heute pauschal als »nationalsozialistisch« erscheinenden, pseudobiologischen Gedankengutes als Jugendlicher und Soldat nicht für prüfenswert hielt . Spätestens nach dem Krieg lehnte Prokop diese Ansichten aber ab.
    Andere blieben bei den unsinnigen, widerlegten Annahmen. Ein Beispiel dafür ist eine medizinische Doktorarbeit, die am Kölner Institut für Rechtsmedizin zwischen 1968 und 1970 erstellt und 1971 veröffentlicht wurde. Obwohl der Autor, der gebürtige Dresdner Wilfent Dalicho, eine vorwiegend statistische Auswertung zur Anzahl und Art von Sterilisationen an Menschen zwischen 1934 und 1943 durchführte, ließ er sich
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