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Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch
Autoren: Antonio Damasio
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bestimmt entscheidend über ihre Funktion mit. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Lage einer Region innerhalb des dreidimensionalen Gehirnvolumens. Die Anordnung im Gesamtgehirn und der innere anatomische Aufbau sind im Wesentlichen in der Evolution entstanden, sie werden aber auch durch die individuelle Entwicklung beeinflusst. Persönliche Erfahrungen prägen die Schaltkreise, ein Einfluss, der zwar auf der Ebene der Mikroschaltkreise am stärksten ausgeprägt ist, sich aber zwangsläufig auch auf der makroanatomischen Ebene bemerkbar macht.
    Die Neuronenkerne sind entwicklungsgeschichtlich sehr alt; sie gehen auf eine Zeit in der Geschichte des Lebendigen zurück, in der ein ganzes Gehirn kaum mehr war als eine Kette von Ganglien, ähnlich den Perlen in einem Rosenkranz. Ein Ganglion ist im Wesentlichen ein einzelner Neuronenkern, der von der Evolution noch nicht in eine größere Gehirnmasse aufgenommen wurde. Das Gehirn der in Kapitel 2 erwähnten Fadenwürmer besteht aus Ketten von Ganglien.
    Die Kerne sind innerhalb des Gesamtgehirns an einer recht tiefen Stelle angeordnet: Sie liegen stets unterhalb des Mantels, der von der Großhirnrinde gebildet wird. Man findet sie im Hirnstamm, in Hypothalamus und Thalamus, in den Basalganglien und im basalen Vorderhirn (dessen Fortsatz die Ansammlungen von Neuronenkernen enthält, die als Amygdalae bezeichnet werden). Damit sind sie zwar alle aus der wichtigen Domäne der Großhirnrinde ausgeschlossen, trotzdem gibt es aber auch unter ihnen eine entwicklungsgeschichtliche Rangfolge. Je älter sie historisch sind, desto näher stehen sie der Mittellinie des Gehirns. Und da alles im Gehirn eine rechte und eine linke Hälfte sowie eine mittlere Trennlinie hat, gibt es zu jedem sehr alten Kern einen Zwillingsbruder auf der anderen Seite der Mittellinie. Dies gilt unter anderem für die Kerne des Hirnstamms, die für die Lebenssteuerung und das Bewusstsein von so entscheidender Bedeutung sind. Im Fall der etwas moderneren Kerne, beispielsweise derer in den Amygdalae, sind das rechte und das linke Exemplar ein wenig unabhängiger und eindeutig voneinander getrennt.
    Die Rindenfelder sind entwicklungsgeschichtlich jünger als die Neuronenkerne. Sie haben alle die charakteristische, zweidimensional-flächige Struktur, die einigen von ihnen die Fähigkeit zur Produktion detaillierter Karten verleiht. Die Zahl der Schichten in einem Rindenfeld schwankt aber von nur drei bei alten bis zu sechs bei jüngeren Feldern. Auch die Schaltkreise in und zwischen diesen Schichten sind von unterschiedlicher Komplexität. Darüber hinaus liefert die Lage im Gesamtgehirn ebenfalls Aufschlüsse über die Funktion. In der Regel findet man sehr moderne Rindenfelder in der Nähe der Stellen, an denen wichtige sensorische Leitungsbahnen – beispielsweise die für Hören, Sehen und Tasten – in die Großhirnrinde eintreten; dort sind sie mit der Verarbeitung der Sinnesinformationen und der Kartenerzeugung beschäftigt. Mit anderen Worten: Sie gehören zum Club der »frühen sensorischen Rindenfelder«.
    Auch die motorischen Rindenfelder sind unterschiedlich alt. Manche von ihnen sind schon frühzeitig entstanden und klein: Sie liegen an der Mittellinie des vorderen Cortex cingulatus und in den ihn ergänzenden motorischen Regionen, und sie sind an der inneren (oder zur Mitte gewandten) Oberfläche der beiden Hirnhälften deutlich zu erkennen. Andere motorische Rindenfelder sind moderneren Ursprungs, haben eine kompliziertere Struktur und besetzen auf den seitlichen Außenflächen des Gehirns beträchtliche Gebiete.
    Was eine bestimmte Region zur Gesamttätigkeit des Gehirns beiträgt, hängt in beträchtlichem Umfang von ihren Partnern ab, das heißt davon, mit welchen anderen Regionen sie im beiderseitigen Austausch steht. Insbesondere ist von Bedeutung, welche Regionen ihre Neuronenfortsätze in die Region X entsenden (womit sie deren Zustand verändern) und welche Regionen die Neuronenfortsätze aus der Region X aufnehmen (so dass sie durch deren Output verändert werden). Vieles hängt davon ab, wo sich die Region X im Netzwerk befindet. Ein weiterer wichtiger Faktor für die Funktion ist die Frage, ob die Region X über die Fähigkeit zur Erzeugung von Karten verfügt.
    Geist und Verhalten sind die jeden Augenblick neu eintretenden Ergebnisse der Tätigkeit ganzer Galaxien von Neuronenkernen und Rindenfeldern, die durch zusammen- und auseinanderstrebende Neuronenfortsätze in Verbindung
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