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SdG 09 - Gezeiten der Nacht

SdG 09 - Gezeiten der Nacht

Titel: SdG 09 - Gezeiten der Nacht
Autoren: Steven Erikson
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runden Türmen hindurch, wobei er vorsichtig über die verstreut herumliegenden Steinbrocken hinwegstieg, die halb verborgen im drahtigen gelben Gras lagen. Die Luft war heiß und stand förmlich, das Sonnenlicht lag wie geschmolzenes Gold auf den Mauern des Turms. Grashüpfer sprangen panisch vor seinen Füßen auf, und als Brys ein schwaches Knirschen unter seinen Sohlen hörte, blickte er nach unten und sah, dass der Boden vor Leben wimmelte. Insekten – viele davon übergroß, unbeholfen, in matten Farbtönen und ihm vollkommen unbekannt – machten sich nach links und rechts davon.
    Da sie alle flohen, war er nicht übermäßig beunruhigt.
    Jetzt kam der viereckige Turm in Sicht. Der Azath. Abgesehen von seinem primitiven Baustil war kaum etwas Besonderes an ihm. Brys war verwirrt. Die Behauptung des Ceda, dass ein Gebilde aus Stein und Holz empfindungsfähig sein sollte, dass es ein eigenes Leben besitzen sollte, hatte ihn erschüttert. Ein Bauwerk setzte einen Erbauer voraus, doch Kuru Qan behauptete, dass der Azath einfach so entstanden sei, sich aus eigenem Antrieb gebildet habe. Was all die Gesetze der Kausalität, die Generationen von Gelehrten als unwiderlegbare Tatsache postuliert hatten, plötzlich als fragwürdig erscheinen ließ.
    Die unmittelbare Umgebung des Turms war weniger geheimnisvoll, wenn auch deutlich gefährlicher. Die buckligen Grabhügel in dem zugewucherten Hof waren unverkennbar. Hier und da wuchsen knorrige, verkrüppelte Bäume, manchmal vom höchsten Punkt der Erdhügel, häufiger allerdings aus den Seiten. Ein gewundener, gepflasterter Weg begann gegenüber dem vorderen Tor, das aus groben Säulen bestand, deren Steine nicht mit Mörtel verbunden, aber von Weinreben und Kletterpflanzen überwuchert waren. Die Überreste einer niedrigen Mauer umschlossen das Gelände.
    Brys gelangte von der Seite her zum Hof; das Tor befand sich zu seiner Rechten, der Turm zu seiner Linken. Und er sah sofort, dass viele Grabhügel in seinem Blickfeld auf mindestens einer Seite in sich zusammengefallen waren, als wären sie von innen ausgehöhlt worden. Das Unkraut, das die Erdhügel bedeckte, war tot und geschwärzt, als wäre es der Verwesung anheim gefallen.
    Nachdem er die Szenerie noch einen Moment betrachtet hatte, begab er sich an der Mauer entlang zum Tor. Er schritt zwischen den Säulen hindurch, trat auf den ersten Pflasterstein – der mit einem knirschenden Geräusch zu einer Seite wegkippte. Brys schwankte, ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, und schaffte es, sich wieder zu fangen, ohne hinzufallen.
    Ein helles Lachen erklang von irgendwo in der Nähe des Eingangs zum Turm.
    Er blickte auf.
    Das Mädchen tauchte aus dem Schatten des Turms auf. »Ich kenne dich. Ich bin denen gefolgt, die dir gefolgt sind. Und habe sie getötet.«
    »Was ist hier geschehen?«
    »Schlimme Dinge.« Sie kam näher, von Schimmelflecken übersät und ungepflegt. »Bist du mein Freund? Ich sollte ihm helfen, am Leben zu bleiben. Aber er ist trotzdem gestorben, und jetzt sind sie damit beschäftigt, sich gegenseitig zu töten. Außer dem einen, den der Turm ausgesucht hat. Er will mit dir sprechen.«
    »Mit mir?«
    »Mit einem meiner erwachsenen Freunde.«
    »Wer sind deine anderen erwachsenen Freunde?«, fragte Brys.
    »Mutter Shurq, Vater Tehol, Onkel Ublala, Onkel Bagg.«
    Brys schwieg. »Wie heißt du?«, fragte er schließlich.
    »Kessel.«
    »Kessel, wie viele Menschen hast du im vergangenen Jahr getötet?«
    Sie legte den Kopf schief. »Ich kann nicht weiter als bis acht und zwei zählen.«
    »Oh.«
    »Viele Achten und Zweien.«
    »Und was ist mit den Leichen?«
    »Ich nehme sie mit hierher und stopfe sie in den Boden.«
    »Alle?«
    Sie nickte.
    »Wo ist dieser … Freund von dir? Derjenige, der mit mir sprechen will?«
    »Ich weiß nicht, ob er ein Freund ist. Folge mir. Tritt dahin, wo ich hintrete.«
    Sie nahm ihn an der Hand, und Brys musste sich anstrengen, ein Schaudern zu unterdrücken, als er ihre kalten, feuchten Finger spürte. Sie verließen den gepflasterten Weg und gingen zwischen Grabhügeln hindurch; bei jedem vorsichtigen Schritt bewegte sich der Boden unstet. Hier gab es noch mehr Insekten, aber nicht mehr so viele verschiedene, als ob auf dem Gelände des Azath irgendeine Art von Auslese stattgefunden hätte. »Solche Insekten habe ich noch nie zuvor gesehen«, sagte Brys. »Sie sind … sehr groß.«
    »Sie sind alt, sie stammen aus der Zeit, in der der Turm geboren
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