Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten
Autoren: Marcel Feige
Vom Netzwerk:
auf den Bürgersteig, der sie zur U-Bahn-Station bringen würde. Er wandte sich der Tür zu, holte den Schlüssel aus der Tasche. Da hörte er einen Schrei. Er wusste sofort, dass sie es war, die ihn ausgestoßen hatte.
    Er achtete nicht auf die Schmerzen in seinen Gelenken und rannte den Weg zur Hauptstraße. Auf halbem Weg zur U-Bahn-Station sah er sie ausgestreckt auf dem Boden liegen. Passanten umringten sie besorgt und neugierig. Er drängte sie beiseite, forderte eine junge Frau mit Handy auf, den Notarzt zu rufen.
    »Eleonore«, sagte er, während er neben ihr in die Knie ging. Seine Glieder rebellierten dagegen, aber er beachtete den Schmerz nicht.
    »Jakob.« Ihre Stimme war brüchig. Er musste den Kopf hinabbeugen, um sie trotz des Straßenlärms zu verstehen. »Mein Herz.«
    »Machen Sie sich keine Sorgen. Der Krankenwagen muss jeden Augenblick hier sein.«
    Sie atmete schwer. »Ich spüre, dass es zu Ende geht.«
    »Das ist das Wetter, das uns zu schaffen macht.«
    »Das ausgerechnet Sie das sagen.« Es fiel ihr schwer zu reden. Ein neuerlicher Schwächeanfall ließ sie erbeben. »Sie waren wie ein Freund für mich.«
    Er verzog das Gesicht. »Ich tat, was meine Aufgabe ist.«
    »Manchmal auch ein bisschen mehr.«
    »Wenn Sie es so empfunden haben, dann freue ich mich.«
    Ihre Augenlider flackerten. Ihr kleiner, magerer Körper wirkte auf dem eisigen Asphalt so zerbrechlich. Er wusste, er durfte sich nicht von ihrer Erscheinung täuschen lassen. Hinter der Fassade des Alters war eine intelligente Frau verborgen – die an einer schweren Last zu tragen hatte. Sie hatte nie darüber gesprochen, aber es war ihr anzumerken. Etwas war in ihrer Vergangenheit vorgefallen, das sie zu dem gemacht hatte, was sie heute war: gramgebeugt, grauhaarig, faltig.
    »Wussten Sie, dass ich eine Tochter hatte?« Ihre Worte kamen stoßweise.
    Überrascht sah er sie an.
    »Sie ist gestorben.«
    »Das tut mir Leid.«
    »Das braucht es nicht. Sie können nichts dafür.« Sie schnaufte und sammelte Atem zum Weiterreden. »Ich möchte Sie um etwas bitten.«
    »Gerne.«
    »Bringen Sie meinem Enkel eine Nachricht.«
    »Sie haben einen Enkel?« Abermals war er erstaunt. Wie viele Geheimnisse bewahrte sie noch?
    »Er ist etwas Besonderes.« Ihre Stimme wurde schwächer, verlor sich im Straßenlärm. Menschen blieben um sie herum stehen. In der Ferne war ein Martinshorn zu vernehmen. »Versprechen Sie, dass Sie nach ihm sehen.«
    »Ich…«
    »Bitte«, unterbrach sie ihn mit einem Ächzen.
    »Soll ich ihn ins Krankenhaus holen?«
    Sie deutete ein schwaches Kopfschütteln an. »Er wird nicht kommen können.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Er ist gerade verhindert.«
    »Wo ist er?«
    Mit letzter Kraft presste sie Worte über ihre Lippen. Er verstand sie nicht. Der Krankenwagen war jetzt ganz nahe. Ihre Stimme war kraftlos, nur noch ein Flüstern. Er beugte den Kopf noch tiefer herab. Aufmerksam lauschte er dem, was sie sagte. Dann sackte ihr Haupt abrupt zur Seite. Der Notarzt zwängte sich durch die Menschentraube und schubste den Priester beiseite.
     
     
    Berlin
     
    Vor Philip stand ein kleiner Mann, der ihm gerade mal bis zum Kinn reichte, bleich wie eine Leiche, aber durchaus quicklebendig. Er grunzte zornig: »Bist du eigentlich bescheuert?«
    »Woher…?«, stammelte Philip.
    »Woher, woher?«, äffte ihn das quirlige Kerlchen nach. »Woher ich komme? Was meinst du denn? Etwa aus dem Scheißhaus?« Er hüpfte einmal quer durch den Raum, riss sich die Hose herab, präsentierte seinen blanken Arsch und hockte sich ohne Hemmungen auf die Kloschüssel. Geräuschvoll pinkelte er in das Becken. Philip ließ er dabei nicht aus den Augen; er grinste und entblößte zwei Reihen nikotingelber Zähne.
    Philip wendete den Blick ab und nahm die Decke auf der an deren Pritsche zur Kenntnis, die jetzt flach auf der Matratze lag. Er entdeckte auch das Paar Dockers unter dem Bett. Auch wenn seine Angst ihm etwas anderes vorgegaukelt hatte, dies hier war keine Fortsetzung des Horrortrips der letzten Tage, sondern der ganz normale Wahnsinn des Großstadtlebens. Erleichtert atmete er auf. Pass bloß auf, dass du nicht den Verstand verlierst. Er ließ sich auf das Bett fallen, dessen Gestell er gerade noch mit wütenden Tritten malträtiert hatte.
    Als der Mann sein Geschäft verrichtet hatte, sprang er auf. Ohne sich die Hose über den baumelnden Schwanz zu ziehen, kehrte er zurück zur Liege und ließ sich der Länge nach auf die Matratze
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher