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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch
Autoren: Cees Nooteboom
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erfahren. Er erzählt von seiner Tochter, die mit Erfolg die Schule besucht, von seiner Frau, die in dem Hotel in der Hauptstraße arbeitet, in dem ich mittags manchmal einen Ingwerpfannkuchen esse, eine der grazilen Gestalten, die sich lautlos über die Terrasse bewegen und einem mit sanften Worten etwas servieren. Über die Wahlen will er auch mit mir sprechen, aber eigentlich interessiert ihn das nicht, sagt er. Der große Anschlag hier auf der Insel, das machen Menschen, mit denen er nichts zu tun haben will, das ist nicht sein Islam. Er will, daß weiterhin Fremde auf die Insel kommen und daß er sie nach Bedulu und Goa Gajah bringen kann, wie jetzt.
     
    Der Kolonialismus hatte viele Gesichter, die meisten wollen wir nicht mehr wahrnehmen. Doch als ich die steile Treppe in die Höhle hinabsteige, denke ich an die Niederländer, die dies als erste angetroffen und für die Nachwelt erhalten haben. Bernet Kempers hat sein monumentales Werk Willem Frederik Stutterheim gewidmet, einst Direktor der archäologischen Behörde im verschwundenenNiederländisch-Indien, der die japanische Besetzung nicht überlebte. Er war einer der größten Balikenner, jemand, den Bernet Kempers wegen seines profunden Wissens sehr bewunderte, doch er nennt auch andere, wie zum Beispiel den jungen Verwaltungsbeamten L. C. Heyting, der 1923 den ersten Bericht über Goa Gajah schrieb, den Maler W. O. J. Nieuwenkamp, der jahrelang auf Bali lebte und ein glänzendes Buch hinterlassen hat, und vor allem den Archäologen J. C. Krijgsman.
     
    Etwas in Wirklichkeit zu sehen, was man bis dahin nur von Fotos kannte, ist immer merkwürdig. Ein riesenhaftes Gorgonenhaupt, das ist
     meine erste Assoziation. Es sind keine anderen Besucher da, die Stille ist absolut, die beiden riesengroßen, wütenden Augen der steinernen Hexe sind zur
     Seite gerichtet, das Haupt herausgehauen aus einer Berglandschaft mit alptraumartigen Figuren, ein asiatischer Hieronymus Bosch in Stein, ein
     bärenähnliches Wesen, das mit einem Stock gepiekst wird, eine Landschildkröte, ein kleiner Mann, der, während er über den Felsen klettert, sein Lendentuch
     verliert und so seine Hoden den Blicken preisgibt, es ist ein Wald, in dem man sich nachts nicht verirren möchte. Auf einem Foto von 1925 habe ich
     gesehen, daß einst Frauentorsi auf dem Boden neben dem Eingang standen, mit den vollkommen runden Brüsten der geometrischen Erotik. Wie alle vor mir trete
     ich in die T-förmige Höhle ein, es ist dunkel, feucht, ich sehe die angekündigten Nischen, die beiden schwarz gewordenen Lingam, von denen Bernet Kempers
     in seinem Buch schreibt, Shiva-Symbole, Häupter ohne Gesicht, jedes mit einem Tuch um einen Hals, der kein Hals ist. Das Relief einer Blume? eines Bandes?
     in der Mitte, sie habenkeine Augen, und doch hat es den Anschein, als sähen sie mich an. Shiva-Linga, Weltenlenker, in dem das
     Universum entspringt und untergeht, Symbol eines höchsten Wesens, das keine Form hat und jede Form. Sie sehen in diesem Halbdunkel phallisch
     aus, doch indische Gelehrte weisen diese »westlichen« Vorstellungen zurück, und wer mischt sich schon gern in eine Auseinandersetzung unter Spezialisten
     ein? Ich belasse es beim Schauen, bin mir aber meiner unglaublichen Unwissenheit in bezug auf die Bedeutung dieser Bilder bewußt, was mich, während ich
     schaue, gleichzeitig für vieles von dem blind macht, was ich sehe. Ich streiche mit der Hand über die dunklen Wände, fühle mich in dieser Höhle wie eine
     nicht ganz gelungene Fledermaus, denke an die wimmelnden Ungeheuer über meinem Kopf, beschließe, mich den Rätseln einfach zu überlassen, und bin
     erleichtert, als ich wieder nach draußen ins plötzlich blendende Licht komme. Wo ich jetzt stehe, stand 1954 der Archäologe Krijgsman zwischen den
     Frauenfiguren auf dem Foto aus 1925 und blickte auf so etwas wie einen Innenhof. Etwas daran jedoch war merkwürdig. Daß die Frauenfiguren einst die
     Funktion eines Wasserspeiers gehabt hatten, war ihm klar, aber wie? Es bestand keine Verbindung zwischen den steinernen Frauen und dem nahe gelegenen
     kleinen Teich. Und doch berichteten die Leute aus der Umgebung von einer Wasserstelle oder einer Quelle, die es dort früher gegeben haben mußte. Krijgsman
     ließ graben, stieß zunächst auf ein paar Treppenstufen, danach auf eine tief aus dem Boden ausgehauene zweiteilige Badestelle, eine für Männer, eine für
     Frauen. Das Wasser aus der Quelle wurde über die
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