Ruht das Licht
Sam gleich bei dir petzen geht, hätte ich die Klappe gehalten.«
»Letzteres«, erwiderte ich. »Aber mit Petzen hat das ja wohl nichts zu tun. Sam macht sich eben Sorgen. Das ist doch nur vernünftig.«
»Bitte, wenn du meinst. Aber glaubst du wirklich, Olivia könnte sich schon verwandelt haben? Denn wenn nicht, wäre ich eher für einen kleinen Morgenspaziergang zurück zu meinem Auto – wir könnten Kaffee trinken gehen.«
Ich schob einen Zweig, der mir im Weg hing, zur Seite und blinzelte. Ich meinte, schon das Wasser durch die Bäume schimmern zu sehen. »Sam hat gesagt, es könnte durchaus sein, dass sich ein neuer Wolf schon zurückverwandelt, zumindest für kurze Zeit. Wenn es mal ein bisschen wärmer ist, wie heute. Wer weiß.«
»Okay, aber wenn wir dann endlich damit fertig sind, sie nicht zu finden, gehen wir Kaffee trinken.« Isabel deutete nach vorn. »Bitte schön, da ist der See. Zufrieden?«
»Mmhmm.« Ich runzelte die Stirn. Mir war plötzlich aufgefallen, wie anders der Wald hier aussah. Die Bäume standen weiter voneinander entfernt, in regelmäßigen Abständen, und das verzweigte Unterholz wirkte weich, als sei es noch relativ jung. Ich blieb abrupt stehen, als ich etwas Leuchtendes aus der graubraunen Erde vor unseren Füßen lugen sah. Es war ein Krokus – ein kleiner violetter Kelch mit einem kaum sichtbaren gelben Herzen. In ein paar Zentimetern Abstand entdeckte ich noch mehr hellgrüne Triebe und zwei weitere Blüten, die aus dem trockenen Laub hervorspitzten. Ein Zeichen des Frühlings – und noch dazu ein Zeichen der Zivilisation – mitten im Wald. Ich verspürte den Drang, mich hinzuknien und die Blütenblätter des Krokus zu berühren, um mich zu vergewissern, dass sie tatsächlich echt waren. »Wo sind wir hier?«
Isabel stieg über einen Ast und sah hinunter auf das Grüppchen tapferer kleiner Blumen. »Ach«, winkte sie ab. »Damals, in der glorreichen alten Zeit, als wir noch nicht hier gewohnt haben, gab es wohl einen Pfad vom Haus runter zum See und die damaligen Besitzer hatten hier so ein kleines Gärtchen. Am Wasser stehen auch noch Bänke und eine Statue.«
»Können wir da mal hingehen?«, fragte ich. Der Gedanke an solch eine verborgene, überwucherte Welt faszinierte mich.
»Wir sind schon da. Guck, da ist eine von den Bänken.« Isabel führte mich ein paar Schritte weiter in Richtung See und trat mit der Stiefelspitze gegen eine steinerne Bank. Sie war von einer dünnen grünen Moosschicht überzogen, mit einer flaumigen orangeroten Flechte hier und da. Ohne Isabel hätte ich sie vielleicht gar nicht bemerkt. Jetzt, als ich wusste, wonach ich suchen musste, war es nicht schwer zu erkennen, wo sich die Terrasse befunden hatte – ein Stückchen weiter standen eine zweite Bank und eine kleine Statue, die eine Frau darstellte. Sie hatte die Hände wie in stummer Verblüffung zum Mund erhoben und ihr Gesicht war dem See zugewandt. Rund um die Statue und die Bänke reckten sich weitere Blumentriebe aus dem Boden, leuchtend grün und fast gummiartig, und inmitten der letzten Schneeflecken sah ich auch noch ein paar Krokusblüten. Neben mir wühlte Isabel das Laub mit dem Fuß auf. »Und hier, siehst du? Hier drunter sind Steine. Fliesen oder so was. Hab ich letztes Jahr entdeckt.«
Ich tat es ihr nach und trat ebenfalls die Blätter zur Seite und tatsächlich, darunter traf mein Schuh auf etwas Hartes. Einen Augenblick lang vergaß ich vollkommen, warum wir eigentlich hier waren, ich scharrte bloß weiter die Blätter weg und legte den feuchten, schmutzigen Boden darunter frei. »Isabel, das ist nicht einfach nur Stein. Guck mal, das ist ein … ein …« Mir wollte das passende Wort für dieses steinerne Strudelmuster nicht einfallen.
»Mosaik«, beendete Isabel meinen Satz und sah hinunter auf die verschlungenen Kreise zu ihren Füßen.
Ich kniete mich hin und kratzte mit einem Stock ein paar Zentimeter frei. Die meisten Steine waren in Naturfarben gehalten, aber ich stieß auch auf ein paar leuchtend blaue und rote. Ich machte weiter, bis man ein spiralförmiges Muster mit einer archaisch aussehenden Sonne in der Mitte erkennen konnte. Dieses strahlende Gesicht, versteckt unter einer Schicht verrottender Blätter, löste ein seltsames Gefühl in mir aus. »Das wäre was für Sam«, sagte ich.
»Wo ist der überhaupt?«, wollte Isabel wissen.
»Guckt sich im Wald hinter Becks Haus um. Er hätte wirklich mitkommen sollen.« Ich konnte ihn schon vor mir
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