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Rückkehr nach Killybegs

Rückkehr nach Killybegs

Titel: Rückkehr nach Killybegs
Autoren: Sorj Chalandon
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in meinem Leben sah ich eine britische Fahne.
    Das erste Mal war am 12. Juni 1930 im Hafen von Killybegs gewesen. Die »Go Ahead«, ein englischer Dampftrawler, hatte wegen einer Havarie dort festgemacht. Sie hatte zwei Masten, dunkelrote Segel, und ihr Schornstein spuckte schwarzen Rauch. Kaum eine Stunde später stand das ganze Dorf am Pier. Ich war fünf. Séanna hielt mich an der Hand, mein Vater war auch da. Während die Seeleute die Stelling anbrachten, sollte ich das Kennzeichen vorlesen, das weiß ans Heck des Schiffes gemalt war. Ich war ganz stolz, dass ich die Ziffern erkannte. LT 534 – die Nummer habe ich lange behalten, weil ich sie gleich für Mama aufschrieb, als wir wieder zu Hause waren. Zwei Hafenpolizisten gingen an Bord, eine irische Fahne in der Hand, denn die Gastlandflagge, die der Kapitän gesetzt hatte, war beschmutzt und zerrissen. Killybegs schenkte ihnen eine ganz neue. Sie wurdesteuerbords gehisst, am vorderen Mast. Die Polizisten salutierten beim Aufziehen. Die Menge applaudierte laut. Die Fischer rauchten schweigend, an die Reling gelehnt. Ihre riesige Flagge schlummerte hinten, von unserem Wind um den Mast gewickelt.
    Einmal hat mein Vater zur Feier des Osteraufstands von 1916 gemeinsam mit seinen Kumpels einen Union Jack auf unserem Dorfplatz abgefackelt. Zu Ehren von James Connolly, Patrick Pearse und allen anderen, die damals erschossen wurden, hatten sie sich vor dem »Mullin’s« versammelt. Es hatte aufgehört zu regnen. Mein Vater stand auf einem Bierfass, die Stirn gerunzelt, die Arme nach Art eines Redners erhoben, und hielt eine Ansprache. Er erinnerte an das Opfer unserer Patrioten und bat um eine Schweigeminute. Danach trat einer aus der Menge und zog aus seiner Jacke eine britische Fahne, die mein Vater mit seinem Feuerzeug anzündete. Es war keine richtige Flagge. Nicht in England für Engländer gemacht. Nur irgendwie auf die Rückseite eines weißen Hemdes gepinselt. Die Farbe war verwischt und über die Kreuze hinausgelaufen, aber man erkannte sie trotzdem. Als sie Feuer fing, begannen die Leute zu klatschen. Ich war auch da. Sehr stolz. Und klatschte wie die anderen. Wir waren ungefähr fünfzig. Zwei irische Polizisten überwachten die Versammlung.
    »Scheiße! Lass das, Pat Meehan! Nicht ihre Drecksfahne!«, rief der ältere, als mein Vater die Flamme dranhielt.
    »Die Stadt kriegt noch Ärger!«, sekundierte der andere.
    Irland war seit fünfzehn Jahren ein freier Staat, aber die Leute glaubten immer noch, dass die britische Armee die Grenze überschreiten würde, um sich zu rächen.
    Die zwei Polizisten liefen über den Platz. Mein Vater und seine Kumpels brüllten: »Auf die Verräter!« Sie waren bereit, sich zu schlagen, um das Feuer zu beschützen. Die Frauen schrien und pressten ihre Kinder an sich. Dann hatte Cathy Malone eine schöne Idee. Sie legte ihr Tuch ab, hob die Stirn, schloss die Augen und stimmte das »Soldatenlied« an, die Fäuste an ihr Kleid gepresst. Papa und die anderen alten Soldaten nahmen ihre Mützen ab und standen Habtacht. Die Polizisten erstarrten. Von den ersten Tönen in ihrem Lauf gestoppt, standen sie stramm, als hätten sie eine Trillerpfeife gehört. So verharrten sie Seite an Seite, rückten mit den Daumen die Koppel zurecht und hoben die Hand zum Mützenschirm. Sonst war nichts mehr zu hören. Nur unsere Hymne, unser kristalliner Stolz und Cathy Malone, die Tränen in Strömen vergoss. Die Fahne war auf die feuchte Straße gefallen und brannte dort weiter, weil eine Handvoll Patrioten, ein paar Frauen im Wolltuch, ein Dutzend Kinder mit zerschundenen Knien und zwei irische Polizisten in Uniform den Feind herausgefordert hatten. Bei all den gigantischen Memorials und grandiosen Feiern, die ich noch erleben sollte, habe ich nie wieder die schlichte Schönheit und Freude dieses Augenblicks gespürt.
    Die Fahne an der Grenze war sehr klein und schäbig. Sie hing auf Halbmast wie Wäsche zum Trocknen. Doch diesmal war es die echte. Und es waren echte Briten. Ich hatte den Eindruck, dass sie besser angezogen waren als unsere Soldaten. Vielleicht, weil sie mir Angst machten. Mama hatte uns eingeschärft, den Blick zu senken, wenn wir mit ihnen sprachen, aber ich sah ihnen ins Gesicht.
    »Kommst du, um gegen die Jerrys zu kämpfen?«, fragte der Soldat, der mich durchsuchte.
    »Gegen wen?«
    Der Typ sah mich komisch an. Er hatte den gleichen Akzent wie Lawrence. Ein Nordire in britischer Uniform. Auf seiner Jacke war ein Abzeichen,
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