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Roman eines Schicksallosen (German Edition)

Roman eines Schicksallosen (German Edition)

Titel: Roman eines Schicksallosen (German Edition)
Autoren: Imre Kertész
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Fleischmanns verbracht. Den beiden Alten geht es gut, sie liegen sich nach wie vor oft in den Haaren, aber dass ich arbeiten gehe, haben sie beide gleicherweise begrüßt, auch sie natürlich wegen des Ausweises. In ihrem Eifer haben sie sich aber dann doch noch ein bisschen gestritten. Meine Stiefmutter und ich kennen uns nämlich in der Gegend von Csepel nicht aus, und so haben wir beim ersten Mal bei ihnen nachgefragt. Der alte Fleischmann hat die Vorort-Straßenbahn empfohlen, während sich Herr Steiner für den Autobus ausgesprochen hat, weil dieser, wie er sagte, unmittelbar bei der Ölraffinerie halte, wohingegen man von der Straßenbahn aus noch ein Stück zu Fuß gehen müsse – und das ist auch so, wie sich inzwischen herausgestellt hat. Da aber konnten wir das noch nicht wissen, und Herr Fleischmann war sehr aufgebracht: «Immer müssen Sie recht haben», polterte er. Schließlich mussten die beiden dicken Ehefrauen einschreiten. Annamaria und ich haben ganz schön über sie gelacht.
    Mit ihr bin ich übrigens in eine komische Situation geraten. Es hat sich Freitagnacht während des Fliegeralarms zugetragen, im Luftschutzraum, genauer, in einem dunklen, verlassenen Kellergang, der von dort abgeht. Ursprünglich hatte ich ihr nur zeigen wollen, dass es von da aus viel interessanter ist, zu verfolgen, was draußen geschieht. Als wir dann aber nach einer kleinen Weile nicht weit entfernt eine Bombe hörten, da hat sie angefangen, am ganzen Körper zu zittern. Ich konnte es gut spüren, denn sie hat sich vor Schreck an mich geklammert, die Arme um meinen Hals, das Gesicht an meine Schulter gepresst. Und dann erinnere ich mich nur noch daran, dass ich irgendwie ihren Mund suchte. Ich spürte eine lauwarme, feuchte, einigermaßen klebrige Berührung. Ja, und dann war es auch so eine Art freudige Verwunderung, weil das eben doch mein erster Kuss mit einem Mädchen war und weil ich gerade da überhaupt nicht damit gerechnet hatte.
    Gestern, im Treppenhaus, hat sich dann herausgestellt, dass auch sie ziemlich überrascht war. «Die Bombe ist an allem schuld», meinte sie. Im Grunde genommen hat sie ja recht. Danach haben wir uns wieder geküsst, und da habe ich von ihr gelernt, auf welche Weise man das Erlebnis noch eindringlicher gestalten kann, indem man nämlich bei dieser Gelegenheit auch der Zunge zu einer gewissen Rolle verhilft.
    Auch heute Abend bin ich mit ihr in dem anderen Zimmer gewesen, um die Zierfische von Fleischmanns anzuschauen: Die betrachten wir nämlich auch sonst oft. Jetzt sind wir natürlich nicht nur ihretwegen hinübergegangen. Auch unsere Zungen haben Verwendung gefunden. Aber wir sind bald zurückgegangen, denn Annamaria hatte Angst, Onkel und Tante könnten von der Sache noch Wind bekommen. Später habe ich im Gespräch noch einige interessante Dinge von ihr erfahren, was ihre Gedanken über mich angeht: Sie sagte, sie habe sich nie vorgestellt, dass ich «einmal mehr für sie sein könnte» als einfach nur «ein guter Freund». Als sie mich kennenlernte, habe sie mich bloß als so einen Halbwüchsigen betrachtet. Später, so hat sie mir verraten, habe sie mich genauer beobachtet, und da sei bei ihr ein gewisses Verständnis für mich erwacht, vielleicht – so meint sie – weil wir beide ein ähnliches Schicksal mit unseren Eltern haben; und aus der einen oder anderen meiner Bemerkungen habe sie auch geschlossen, dass wir in gewissen Dingen ähnlich denken; aber mehr als das habe sie sich damals überhaupt nicht vorstellen können. Sie hat noch eine Weile darüber nachgesonnen, wie seltsam das sei, und dann sagte sie: «Offenbar hat es so sein müssen.» Sie hatte einen merkwürdigen, fast schon strengen Ausdruck im Gesicht, und ich habe ihre Ansicht auch gar nicht bestritten, obwohl ich eher mit dem einverstanden bin, was sie gestern gesagt hat, nämlich dass die Bombe schuld war. Aber natürlich kann ich das nicht wissen, und mir schien, so gefiel es ihr besser. Wir sind dann bald gegangen, weil ich ja morgen zur Arbeit muss, und als ich dem Mädchen die Hand gab, hat sie mir mit dem Fingernagel einen scharfen kleinen Schmerz versetzt. Ich verstand, sie meinte unser Geheimnis, und ihr Gesicht schien zu sagen: «Alles in Ordnung.»
    Am nächsten Tag hat sie sich jedoch ziemlich sonderbar benommen. Am Nachmittag nämlich, nachdem ich von der Arbeit nach Hause gekommen war und mich gewaschen, Hemd und Schuhe gewechselt und mit einem nassen Kamm auch mein Haar in Ordnung gebracht
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